Wolf Shadow 01 - Wilks, E: Wolf Shadow 01
Qin trat zur Seite. Lily schlüpfte aus ihren Schuhen und betrat ein kleines Stückchen China … die Version ihrer Großmutter.
Der Eingangsflur war klein und fast unmöbliert. Ein aus Stein gemeißelter Minibrunnen plätscherte auf einem glänzenden schwarzen Tisch, und daneben stand ein einfaches Holzregal mit Straßenschuhen und einer stattlichen Pantoffelsammlung. Lily wählte ein türkisfarbenes Paar und folgte Li Qin.
Sie durchquerten einen Raum, den Lily und ihre Cousinen „Trophäenkammer“ nannten, denn er beherbergte Großmutters Sammlungen: Jade, Keramik, Lack. Neues und Altes war bunt durcheinandergemischt. Ein halbes Dutzend Stücke hatte Museumsqualität, und manche waren einfach nur kurios. Großmutter hatte einen unberechenbaren Geschmack.
Die Tür zum Garten stand offen. Als Lily über die Schwelle trat, verließ sie China wieder und sah sich einer wilden Mischung aus Mittelmeer und Tropen gegenüber. Der quadratische Hof war mit Platten ausgelegt, in deren Mitte eine runde Grasfläche ausgespart war. In den vier Ecken wuchsen Bleistiftsträucher und Hibiskus, blühender Lavendel und üppiger Bambus, und Santa-Barbara-Gänseblümchen scharten sich um ein kleines Orangenbäumchen.
Genau in der Mitte des Hofes saß eine kleine Frau an einem runden Tisch. In ihrem Gesicht zeigten sich Spuren des Alters, aber ihr Körper war gelenkig: Sie saß im Schneidersitz. Das schwarze Haar mit den auffälligen weißen Strähnen an den Seiten war zu einem strengen Knoten zusammengenommen. Sie trug eine maßgeschneiderte schwarze Hose und eine kragenlose rote Bluse, beide aus Seide, und hielt ihr Gesicht in die Sonne.
Lily ging auf sie zu. „Großmutter“, sagte sie vorwurfsvoll, als sie sich vorbeugte, um ihr einen Kuss auf die weiche gepuderte Wange zu hauchen, „der Lavendel blüht ja!“
„Ich liebe den Duft.“ Die Großmutter antwortete ihr auf Chinesisch, was einer klaren Rüge gleichkam.
Widerstrebend wechselte Lily ins Chinesische. Sie konnte die Sprache besser verstehen als sprechen. „Das ist doch die völlig falsche Jahreszeit! Was glaubst du, wie kraftraubend das für die Pflanze ist!“
Die nachgezogenen Augenbrauen der Großmutter gingen nach oben. „Du bist gekommen, um mich um einen Gefallen zu bitten?“, fragte sie, doch sie bot ihrer Enkelin keinen Platz an. Ein denkbar schlechter Start – und trotzdem lachte Lily, denn sie empfand eine überwältigende Zuneigung für die alte Dame. „Wo ai ni, Dzu-mu.“
Die Alte tätschelte ihr die Wange. „Ich habe dich auch lieb. Obwohl ich nicht weiß, warum. Du bist ein freches Gör, und du hast einen grauenhaften Akzent.“ Sie wies mit ihrer kleinen Hand hoheitsvoll neben sich. „Setz dich! Li Qin bringt gleich den Tee.“
Was bedeutete, dass sie nicht sofort zur Sache kommen würden. Lily setzte sich und schaffte es tatsächlich, nicht ungeduldig herumzuzappeln. In den folgenden zwanzig Minuten tranken sie Oolong aus hauchzarten kleinen Porzellantassen ohne Henkel und sprachen über DIE HOCHZEIT – inzwischen erschien das Wort stets in Großbuchstaben vor Lilys geistigem Auge – und die kalifornische Politik, an der die Großmutter großes Vergnügen hatte. Genau wie an Baseball.
Sie war ein großer Padres -Fan. Der Verein stolperte zwar von einer glanzlosen Saison in die nächste, aber Großmutters Begeisterung war ungebrochen. Nachdem sie sich über diverse Spieler ausgelassen hatte, sagte sie: „Ich habe ein Mannschaftshoroskop erstellen lassen. Das wird ihre beste Saison werden, wenn sie sich keine Verletzungen zuziehen.“
„Das wäre ja mal was ganz Neues! Letztes Jahr waren – wie viele? – fünf Spieler draußen!“
„Das ist doch nicht normal, so viele Verletzungen!“ Die Großmutter grübelte einen Augenblick darüber nach. „Ich werde dem Manager ein gutes Fluchbrecher-Unternehmen empfehlen.“ Sie sah Lily listig an. „Ich habe gehört, Changs Betrieb sucht eine Sensitive. Sie zahlen ziemlich gut.“
„Jetzt fängst du auch noch davon an!“
Die Großmutter kicherte. „Deiner Mutter würde es gefallen. Aber ich glaube, mir nicht.“
Lily hatte nie für eines der privaten Unternehmen arbeiten wollen, die Sensitive beschäftigten – und explizit in dieser Funktion auch nicht für die Regierung. Man hatte Sensitive – und einige, die sich nur dafür ausgaben – jahrhundertelang eingesetzt, um Andersartige aufzuspüren. Während der sogenannten Säuberung war es am schlimmsten gewesen, aber es setzte
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