Wolf Shadow 01 - Wilks, E: Wolf Shadow 01
auch später, im Erwachsenenleben, hatte er sich ihren Respekt verdient.
Dennoch, ihre Großmutter betonte stets, dass es außer Tod und Steuern noch eine dritte Unvermeidbarkeit im Leben gab: das Ränkespiel. Zwei Personen können gegeneinander kämpfen, Karten spielen oder zusammen schlafen, sagte sie immer, aber wenn drei beteiligt sind, dann fängt einer unweigerlich mit Winkelzügen an.
Wenn dieser Fall zu einem Desaster wurde, hatte sie einen dicken Minuspunkt in ihrer Akte … sowie eine Handvoll ungelöster Fälle. Und erst recht keine neuen Erfolge.
Lilys Finger trommelte schneller. Hatte sie Randall vielleicht deshalb nicht über Karonski in Kenntnis gesetzt? Sie informierte ihn zwar nicht jedes Mal, wenn sie auf jemanden mit einer Gabe oder einen Andersblütigen stieß, aber wenn ein FBI -Agent ein praktizierender Hexer war, dann würde der Captain es wissen wollen.
Sie mochte es ihm aber nicht sagen. Aus einem schwer bestimmbaren Instinkt heraus, oder ging es um verletzte Gefühle?
Der Captain hatte sich ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt, indem er seiner unerfahrensten Kriminalbeamtin einen so großen Fall übertragen hatte. Doch er betrieb vermutlich auf diese Weise Schadensbegrenzung. Wenn sie den Fall löste, standen alle gut da. Wenn sie ihn vermasselte oder sich die ganze Sache zu lange hinzog und jemand den Medienhaien zum Fraß vorgeworfen werden musste … Lily konnte nachvollziehen, dass der Captain lieber das Risiko einging, einen Neuling zu verlieren als einen altgedienten Kollegen. Der Verlust eines weiblichen Detective war wohl leichter zu verschmerzen – noch dazu, wenn es sich um eine Chinesin handelte …
Aber vielleicht war sie ja auch nur paranoid.
Sie schnitt eine Grimasse und befasste sich erst einmal mit dem kleinsten Problem auf ihrer Liste: Sie schlug ihren Kalender auf. Nach kurzer Überprüfung bestätigte sich ihr Verdacht; sie hatte einfach keine Zeit für die Anprobe. Ihr blieb wohl nichts anderes übrig, als ein Mittagessen dafür ausfallen zu lassen – was vermutlich im Laufe der Ermittlungen noch öfter vorkommen würde.
Aber nicht morgen, dachte sie, denn da war sie mit Rule Turner zum Lunch verabredet. Heute würde sie unterwegs etwas essen, bevor sie sich ihre „Verbindungen zur übernatürlichen Gemeinschaft“ zunutze machte.
Sie wandte sich ihrem Computer zu und schickte ihrer Mutter rasch eine E-Mail. Dann griff sie zum Telefon und rief ihre Großmutter an.
Vor zwölf Jahren hatte ihre Großmutter die Familie in Bestürzung versetzt, als sie aus dem chinesischen Viertel ausgezogen war, wo sie gelebt hatte, seit sie als Kriegsbraut in die Vereinigten Staaten gekommen war. Ihr Haus stand auf einem fünf Morgen umfassenden Grundstück, das sie von einer größeren Fläche zurückbehalten hatte, die sie vor über vierzig Jahren erwarb, als sie noch nicht zum städtischen Einzugsgebiet gehörte. Sie hatte es genau nach ihren Wünschen bauen lassen, und sie hatte bar bezahlt.
Das Haus vertrug sich nicht mit seiner Umgebung. Es war ein quadratisches Gebäude aus Stein mit einem massiven Giebeldach, das besser ins schneereiche Nordchina gepasst hätte als in den warmen Süden Kaliforniens. Die Fenster waren hoch oben angebrachte horizontale Schlitze, wodurch das Haus aussah wie eine Festung mit einem pompösen Hut darauf. Es gab keine Auffahrt. Lilys Großmutter hatte nichts für Auffahrten übrig. Sie war auch nicht gerade verrückt nach Autos, obwohl sie eins besaß. Ihre alternde Großcousine, die bei ihr wohnte, durfte es ab und zu fahren.
Lily parkte am Straßenrand, ging den geschwungenen Kiesweg zu der knallroten Haustür hoch, die von zwei zähnefletschenden Steinlöwen flankiert war, und drückte auf die Klingel.
„Lily. Wie schön, dich zu sehen!“ Das Alter hatte Li Qins kantiges Gesicht etwas weicher und ihren jetzt knochigen Körper androgyner werden lassen. Das einzig wahre Schöne an ihr war die Stimme – leise und sanft und glockenhell. „Komm doch bitte herein! Deine Großmutter ist im Garten.“
„Danke. Du siehst gut aus.“ Die dezente, höfliche Art der Älteren gab Lily immer das Gefühl, plump und tollpatschig zu sein – so als könne sie das zarte Pflänzchen versehentlich mit einem schnell dahingesagten Wort verletzen. Was natürlich Unsinn war. Die Frau lebte mit ihrer Großmutter zusammen. Sie musste ziemlich zäh sein, sonst hätte sie bereits vor Jahren das Handtuch geworfen.
„Vielen Dank. Mir geht es auch gut.“ Li
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