Wolf Shadow 01 - Wilks, E: Wolf Shadow 01
Fachwerk- oder glatt verputzten Häuser sahen aus, als hätte man sie willkürlich im Tal verteilt: Manche standen an der Hauptstraße, doch viele schauten auch zwischen den Kiefern und Eichen an den Berghängen hervor. Auf der Fahrt durch das Dorf kamen sie an einer Tankstelle, einem kleinen Obst- und Gemüsemarkt, einem Café, einer Reinigung und einem Gemischtwarenladen vorbei.
Mehrere Dutzend Dorfbewohner hatten sich auf einem Platz von der Größe eines Footballfeldes versammelt, um den die Straße herumführte. Ob dort die Zeremonie stattfand, der sie nicht beiwohnen durfte? Wie der Wachposten am Tor, waren fast alle Männer lediglich mit Shorts bekleidet. Die Frauen – warum hatte sie nicht damit gerechnet, Frauen anzutreffen? – trugen ebenfalls Shorts, allerdings auch Schuhe und T-Shirts oder rückenfreie Tops. Ein paar von ihnen winkten, andere schauten nur zu ihnen hinüber, als sie vorbeifuhren.
Ein Stück weiter saß ein Mädchen im Teenageralter vor einem kleinen Haus auf der Verandatreppe. Es trug ein hauchdünnes Sommerkleid, trank Limo aus der Dose … und kraulte einen silbergrauen Wolf.
Der Wolf schaute dem Mercedes aufmerksam nach.
Das Haus des Rho lag etwas erhöht am Ende der Straße. Es war ein hell verputztes Gebäude von ansehnlicher Größe mit rotem Ziegeldach – wunderschön, aber sicherlich keine hochherrschaftliche Villa. Einen dreihundert Millionen Dollar schweren Mann hätte sie in diesem Haus nicht vermutet. Als Rule in die Einfahrt fuhr, sah sie einen Mann an der Ecke des Hauses stehen. Er war mittleren Alters und halb nackt wie alle anderen auch.
Die Klinge des Schwertes in seiner Hand war gut einen halben Meter lang. „Grundgütiger! Ist das die Palastwache?“
„So ungefähr.“
Rule brachte den Wagen vor dem Haus zum Stehen. Der Wächter beobachtete sie. Er sah nicht annähernd so freundlich aus wie der am Tor. „Das spricht nicht gerade für Ihre Behauptung, es seien alle zufrieden damit, kein Mitbestimmungsrecht zu haben.“
„Sie sind mit den Verhältnissen nicht vertraut.“
„Sie könnten mich ja informieren.“
„Der Rho hat mir noch nicht gesagt, wie viel ich Ihnen anvertrauen darf.“
„So etwas können Sie nicht selbst entscheiden, ohne ihn vorher zu fragen?“
„Nicht, wenn ich es mit der Polizei zu tun habe.“ Er öffnete die Wagentür.
Sie streckte die Hand nach ihm aus, um ihn aufzuhalten. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen wollte, und sie hatte auch keine Gelegenheit mehr, es zu erfahren. Die Haustür flog auf, und ein kleiner Junge kam herausgerannt. „Papa! Papa!“
Fast im selben Augenblick sprang Rule aus dem Wagen. Er lief bereits auf den Jungen zu, als Lily noch an ihrem Sicherheitsgurt nestelte, und auf seinem Gesicht zeigte sich eine solche Freude, dass sie ganz verlegen wurde. Es kam ihr vor, als sei es nicht recht, dass sie so etwas Privates miterlebte.
Sie stieg langsam aus, als Rule den Jungen in die Arme schloss, ihn hochhob und sich mit ihm im Kreis drehte. Dann setzte er ihn sich so mühelos auf die Schulter, als hätte er nicht mehr Gewicht als eine Feder. Der Junge hatte kurzes, glattes Haar, das eine Spur dunkler war als Rules, ein runderes Kinn und natürlich keinen Bartwuchs, aber ansonsten war er eine Miniaturausgabe seines Vaters.
Vielleicht sahen sie sich aber auch nur in diesem Moment besonders ähnlich, weil sie beide gleichermaßen über das ganze Gesicht strahlten.
„Was machst du eigentlich hier draußen?“, fragte Rule. „Hast du keinen Unterricht?“
„Jetzt ist doch Mittagspause!“, rief der Kleine empört. „Außerdem bin ich mit Rechtschreiben schon fertig, und ich kenne alle Staaten, und Nettie hat gesagt, Mathe machen wir nachher.“ Er verzog das Gesicht. „Aber Mathe macht mir nicht so viel Spaß.“
„Ja, ich weiß. Aber das Dividieren klappt doch jetzt immer besser, und Multiplizieren ist sowieso furzeinfach. Wie viel ist sieben mal sieben?“
„Neunundvierzig! Und furzeinfach sagt man nicht!“
„Sorry, hatte ich vergessen. Ich möchte dir gern jemanden vorstellen, mein Sohn.“
„Ja?“ Der Kleine sah sich suchend um und erblickte Lily. „Ein Mädchen!“, sagte er überrascht.
„Eine Dame“, verbesserte Rule ihn. „Lily, das ist mein Sohn Toby Asteglio. Toby, das ist Lily Yu.“
„Ju? Wie Juhu?“
„Das ist ein chinesischer Name“, erklärte sie. „Und man schreibt ihn mit einem Ypsilon am Anfang.“
„Sprichst du auch Chinesisch?“
„Manchmal, wenn ich bei
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