Wolf Shadow Bd. 7 - Verbotene Pfade
können. Dann hatte sie die Polizei alarmiert. Doch das war, als es noch keine Handys, kein Internet und keinen »Amber Alerts«, einen Aufruf für vermisste Kinder in den Medien, gab. Alles hatte sehr viel länger gedauert. Zu lange für Sarah.
Man nannte es die Schuld des Überlebenden. Lily verstand das Bedürfnis, etwas zu beschriften, zu etikettieren, der Sache einen Namen zu geben. Dann hatte man das Gefühl, sie zu kontrollieren. Doch dieses spezielle Etikett hatte ihr nie geholfen. Dieses nagende, düstere Gefühl von Ungerechtigkeit war so viel mehr als Schuld. Es war Scham und Entsetzen und Wut und Verlust, eine Welt und ein Ich, die gleichermaßen fremd und schrecklich geworden waren.
Von einem Schritt auf den nächsten konnte die Welt ins Kippen geraten. Das wusste Lily, seitdem sie acht Jahre alt war, aber es war so lange her, dass sie es auch empfunden hatte. So lange.
Warum sie sich gerade jetzt so fühlte, war nicht schwer zu verstehen. Sie wünschte verzweifelt, das Gefühl würde vergehen, aber vergeblich. Nicht sofort und nicht gänzlich. Das war auch etwas, das sie gelernt hatte: Es brauchte Zeit. Ihr Arm heilte nur langsam. Und ihr Ich auch.
Doch sie war nicht mehr acht Jahre alt. Und LeBron war nicht gestorben, weil sie etwas Verbotenes getan hatten. Er war gestorben, weil jemand Lilys Tod wollte … und LeBron, so wie Rule gesagt hatte, LeBron hatte die Pläne des Monsters auf die einzig ihm mögliche Art vereitelt.
Unter Lilys geschlossenen Lidern brannte Salz – Blut, das sich in Tränen gewandelt hatte. Und das war in Ordnung so.
Die meisten Nokolai lebten nicht auf dem Clangut, doch sie wurden stets mit offenen Armen empfangen. An der Südseite der Versammlungswiese gab es zwei Schlafsäle im Kasernenstil, beide mit einer Gemeinschaftsküche, Gemeinschaftsduschen und Toiletten. Beide zusammen boten Platz für circa vierhundert Lupi.
Einer der Schlafsäle wurde ganzjährig älteren Clanmitgliedern zur Verfügung gestellt, die nicht allein leben wollten und – wenn nötig – die nicht mehr für sich selbst sorgen konnten. Auch Lupi bekamen das Alter zu spüren, die Wehwehchen und Demütigungen, doch für sie kam der Verfall meist schnell und plötzlich. Ein alter Lupus konnte eben noch auf seiner Harley durch die Gegend gebraust sein und schon eine Woche darauf bettlägerig und in der dritten Woche tot sein.
Gäste, die nicht dem Clan angehörten, waren seltener, aber auch sie mussten beherbergt werden. Für sie waren die beiden kleinen Häuser in der Nähe der Kasernen gedacht, die allerdings oft vom Clan genutzt wurden, unter der Maßgabe, sie, falls notwendig, für Gäste zu räumen. Sie leer stehen zu lassen hätte ja keinen Sinn gemacht.
Lily war davon ausgegangen, dass sie und Rule in einem der Gästehäuser wohnen würden – ein Irrtum, an dem wohl die Medikamente schuld waren.
Denn selbstverständlich wollte Rules Vater, dass sie bei ihm wohnten. Und selbstverständlich wollte auch Rule dort wohnen. Dort war er aufgewachsen. Dort wohnte Toby, wenn er auf dem Clangut war. Und es war reichlich Platz für alle, selbst für Arjenie Fox. Isens großes Haus hatte viele Gästezimmer … doch sie wollte in keinem von ihnen schlafen.
Warum nicht? Sie wusste es nicht. Weder sie noch Rule würden kochen oder putzen müssen, sodass sie sich ganz dem widmen können würden, was nun am wichtigsten war: die Spuren und Hinweise aufzuarbeiten, die der Täter hinterlassen hatte, wer immer das auch war. Außerdem stand das Haus Tag und Nacht unter Bewachung, sodass Rule sich keine Sorgen um sie machen würde.
Bei Isen zu wohnen war eine vernünftige Entscheidung. Dass sie sich nicht wohl dabei fühlte, bedeutete, dass sie nicht vernünftig war, und das gefiel ihr gar nicht.
Als die lange schwarze Limousine schließlich vor Isens Haus vorfuhr, verbeugte sich die Sonne ein letztes Mal, bevor sie die Bühne verließ. Flammende Wolken bauschten sich wie Röcke um sie, als sie sich über die Hügel im Westen senkte. In dem weitläufigen, mit Stuck verzierten Haus brannte Licht. José und seine Männer waren bei den Baracken zurückgeblieben. Noch bevor sie ganz zum Halten kamen, stürzte Toby aus der Tür – einen Rollstuhl vor sich herschiebend.
Lily warf Rule einen giftigen Blick zu, doch der blieb ganz gelassen.
Der Rollstuhl rumpelte fröhlich über den Kiesweg, volle Kraft voraus, ohne an den niedrigen Stufen anzuhalten, aber ohne die Limousine zu rammen, denn in der letzten Sekunde
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