Wolf Shadow Bd. 7 - Verbotene Pfade
Ich hatte mehr Glück als Verstand.«
Lächelnd wandte Rule sich Lily zu. »Nettie war gerade zehn geworden. Drei Monate nach Claires Tod hat sie die Sache selbst in die Hand genommen und ist von New Mexico nach Kalifornien getrampt. Bis nach Palo Verde hat sie es unbeschadet geschafft, obwohl sie wohl so einiges Beängstigendes erlebt hat, bevor Benedict sie fand.«
»Er hat sie gefunden? Wusste er, dass sie auf dem Weg zu ihm war?«
Rule schüttelte den Kopf. »Nicht vorher. Nettie hatte ihrer Mutter eine Nachricht hinterlassen. Ihre Mutter rief dann Isen an. Sie war wohl ziemlich aufgelöst, habe ich gehört. Dort, wo sie wohnte, war die Polizei den Navajos nicht gerade freundlich gesonnen. Sie hatte sie zwar informiert, war sich aber nicht sicher, ob man sie wirklich suchen würde. Isen … nun, Benedict war in schlechter Verfassung, und er schien nicht wieder zu sich zu finden. Isen sagte ihm, er solle dem entweder ein Ende machen und sich umbringen oder seine Tochter retten.«
»Er brauchte mich«, sagte Nettie ruhig. »Aber aus einem anderen Grund, als ich glaubte. Ich war ja nur ein Kind. Ich dachte, ich müsste etwas für ihn tun – den Boden wischen, darauf achten, dass er aß –, egal was, nur damit er wusste, dass er geliebt wurde. Doch ich hatte mich geirrt. Er brauchte mich, weil er etwas für mich tun musste.«
So wie Rule eine Limousine für Lily mieten musste … unter anderem. Auf einmal war sie beschämt. Sie musste mit ihrer Energie haushalten, das stimmte, aber trotzdem hätte sie sich mehr bemühen müssen, ihn zu verstehen. Nicht nur sie war Opfer des Anschlags, sondern auch Rule, in sehr konkreter Weise.
So war Gewalt. Es gab niemals nur ein Opfer.
Er und Nettie waren Onkel und Nichte, aber sie waren auch Altersgenossen. Wenn Nettie zehn war, als die Auserwählte ihres Vaters gestorben war, musste Rule elf oder zwölf gewesen sein, als er mit ansehen musste, wie sein Bruder, den er vergötterte, fast zugrunde ging, als das Band der Gefährten durchtrennt wurde. »Ich beginne nun besser zu verstehen, wie es für dich war, als du das Band zwischen uns bemerkt hast«, sagte sie leise.
Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln, aber bevor er etwas erwidern konnte, klingelte sein Telefon. Sie erkannte den Ton.
Lily fragte sich zwar immer wieder, nach welchem System Rule die Musikstücke aussuchte, aber die meisten Klingeltöne konnte sie mittlerweile zuordnen. Sein Vater hatte »Duelling banjos«, Benedict »Eroica« von Ars Arcana. Die passten gut, aber für Lily hatte er eine süßliche Geigenmelodie aus einem alten Zigeunerlied gewählt, die zwar hübsch war, aber so gar nicht nach ihr klang. Als sie ihn darauf angesprochen hatte, hatte er nur gelächelt und ihr über die Wange gestrichen. »Die Musik drückt nicht aus, wie du bist, sondern wie ich für dich fühle, nadia .«
Manchmal brachte er sie einfach zum Schmelzen.
Jetzt erklang das klirrende Intro zu Hieronymus Boschs »Nodus«: Alex, der Lu Nuncio der Leidolf.
Das Gespräch dauerte nicht lange. Auch ohne Rules scharfe Ohren verstand Lily, dass es keine guten Nachrichten waren, als Rules Gesicht sich verhärtete. »Ich verstehe. Ich werde ihn anrufen. Das glaube ich nicht, aber ich lasse es dich wissen. Einen Moment, ich muss es Lily sagen.«
Er stellte auf stumm und sagte mit eisiger Präzision: »Heute Nachmittag hat Raymond Cobb sich gewandelt und sich beide Arterien an den Vorderbeinen herausgerissen. Er ist verblutet.«
27
Cobb hatte Alex – seinen Lu Nuncio – als seinen nächsten Verwandten angegeben. Nur deswegen hatte Rule nun von Cobbs Tod erfahren. Lily hatte niemand angerufen. Weil es nicht ihr Fall war – trotzdem … Croft hätte sie unterrichten müssen. Jemand hätte sie unterrichten müssen.
Vor Wut kochend drehte Lily sich, um an ihre Handtasche auf dem Boden zu kommen. Sie wollte Sjorensen anrufen. Die junge Agentin würde ihr mehr sagen, dessen war sie sich sicher.
»Nein«, sagte Nettie laut und deutlich.
»Was meinst du?«
»Du arbeitest jetzt nicht. Du ruhst dich aus.«
»Den Teufel werde ich tun.« Lily fand ihr Handy und zog es aus der Tasche.
»Du hast mir dein Wort gegeben.«
Nur mit Mühe schluckte Lily herunter, was ihr auf der Zunge lag. »Es ist für mich nicht erholsam, mich auszuruhen.«
»Dann musst du es eben lernen.«
Am liebsten hätte sie etwas geworfen. Es war kindisch und dumm, und nur die schwache Erinnerung an die missbilligende Miene ihrer Mutter hielt Lily davon ab, es
Weitere Kostenlose Bücher