Wolf Shadow Bd. 7 - Verbotene Pfade
Toilettentisch, schloss die Augen, zwischen Scham und Entsetzen schwankend, und erkannte, was sie nicht hatte wahrhaben wollen: Sie war froh. Froh, dass es LeBron gewesen war, der mit ihr gelaufen war. Der auf dem Gehweg gestorben war. Nicht Rule.
Es hätte so leicht Rule treffen können. Und es konnte ihn immer noch treffen, morgen oder übermorgen. Oder Cullen, Cynna, ihre Schwestern, Toby, ihre Eltern, Isen, Nettie … sie erschauderte.
Komisch. Eben hatte sie noch gedacht, der Tod hätte keinen Schrecken für sie. Aber das, was sie da empfand, war blanke Angst, und zwar vor dem Tod … aus der anderen Perspektive. Der Perspektive desjenigen, der zurückblieb, der nicht verhindern konnte, dass der Tod ihm die nahm, die er liebte.
Sie hätte nichts tun können, um LeBron zu retten. Sie war nicht allwissend, weiß Gott nicht. Und das Gefühl der Unrichtigkeit , diese tiefe Schwäche, die sie empfand, hatte ihre Ursache in dem sicheren Wissen, dass es wieder passieren konnte. Wenn nicht durch eine Kugel, dann durch einen Blitz, einen Autounfall, Krebs oder was immer das Schicksal und die Sterblichkeit sich Verrücktes einfallen ließen.
Sie konnte sie unmöglich alle beschützen. Es lag nicht in ihrer Macht zu entscheiden, wer lebte und wer starb. Diese Macht hatte niemand. Und es half nicht, ganz und gar nicht, dass sie nun wusste, warum Isen glaubte, dass sie erneut einen Schlag gegen die Lupi plante. Lily glaubte, dass er recht haben könnte, falls es stimmte, was Arjenie behauptete: dass Friar nichts hören konnte, was auf dem Clangut gesagt wurde.
Wie sollte sie jetzt einfach weitermachen, als wäre es selbstverständlich, dass die, die sie liebte und brauchte, auch morgen und übermorgen bei ihr waren?
Sie hatte es einmal gewusst. Noch vor drei Tagen hatte sie gewusst, wie man es durch den Tag schafft, ohne nach Luft zu schnappen wie eine Forelle an Land, aus panischer Angst um die geliebten Menschen. Jetzt wusste sie nicht mehr, wie es ging.
Langsam holte Lily Luft. Dann musste sie eben einfach so tun als ob. Als ob sie sie alle schützen könnte oder sie alle sich selbst oder als ob ihnen das Schicksal gnädig sein würde. Als ob ihr Herz gerade jetzt nicht hämmern würde. Als hätte sie den Mut, ihr Leben zu riskieren. Denn welche andere Wahl blieb ihr?
Rules Leben zu riskieren.
Es hätte ihn treffen können .
Mit klarem Kopf und eisigen Händen verließ Lily das Badezimmer. Sie setzte sich in den Rollstuhl, mit dem Rule sie erwartete, und ließ sich von ihm schieben. Anscheinend war jeder überzeugt, sie könnte nicht ohne Hilfe gehen.
Und sie hatten ja auch recht, nicht wahr?
29
Gelächter ist nicht musikalisch. Musik ist per Definition eine Kunstform; echtes Gelächter dagegen ist natürlich, unüberlegt. Auch hat Gelächter nicht die musikalische Qualität einiger natürlicher Geräusche – das rhythmische Rauschen von Wellen, das Prasseln des Regens oder der Schrei einer Eule. Es ist ansteckend und einnehmend, aber es ist nicht Musik.
Als Rule Lily ins Wohnzimmer schob, lachte Arjenie gerade, mit weit zurückgelegtem Kopf, als wollte sie ihre Kehle öffnen, damit das Lachen besser herausströmen konnte. Und es klang wie Musik.
Schon immer hatte Lily, wenn sie Arjenie am Telefon lachen hörte, an das klischeehafte Bild von den Glocken denken müssen. Dabei hatte sie nur nie die Verbindung zu den Sidhe gezogen. Warum auch? Natürlich hatte auch sie, wie viele Sechstklässler, das dumme Gedicht von Keats oder Shelley oder wem auch immer über Elfengelächter auswendig lernen müssen:
… ganz leis Musik den Schlaf durchdringt
kein Regenfall, nicht Wind noch Nacht, so Nacht denn eine Stimme hätt’ –
ein Mond, der wächst, ein Hirsch, der springt
wie Wolkenglucksen, Halmenplausch
das Elfenmaidenlachen klingt.
Huch, diese Stelle konnte sie sogar noch auswendig. Das war Mrs McCutcheons Verdienst. Doch sie hätte nie gedacht, dass das Gedicht etwas Reales beschrieb, vermutlich, weil sie noch nie ein Elfenlachen gehört hatte.
Und jetzt stellte sich heraus, dass sie es doch schon gehört hatte, wenngleich ohne es zu wissen.
Isen und Nettie saßen auf einem der großen Sofas im hinteren Teil des Raums. Arjenie hatte sich in einen Armsessel daneben gekuschelt. Isen erhob sich, als er sie sah. »Lily.« Er war erfreut. »Du fühlst dich besser.«
»Und du sitzt in dem ach so verhassten Rollstuhl«, sagte Nettie amüsiert. »Das ist gut.« Sie stand ebenfalls auf.
Lily schnitt eine
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