Wolf unter Wölfen
Die Mütter hatten es gar nicht mehr nötig, ihren Bengeln zu befehlen: »Gegen die Sophie benehmt ihr euch anständig. Die ist jetzt eine richtige Dame!« – Sie wußten auch so Bescheid, und die Sophie Kowalewski war ihrenNachstellungen entrückt wie etwa das gnädige Fräulein in der Villa. Mit Berliner Herren, die vielleicht sogar Detektive waren, wollte es keiner von ihnen zu tun bekommen.
Die Herren aber waren gemütlich plaudernd weitergegangen, ohne Ahnung davon, daß sie für die Isolierung ihrer gefährlichen Feindin in der Dorfgemeinschaft gesorgt hatten. Sie hatten erst einmal in die Ställe geschaut und waren dann auf das Büro gegangen. Auf dem Schreibtisch des Büros stand ihr Abendessen, und auf dem Fußboden des Büros stand grau und reserviert der Diener Räder. Er tat jetzt aber den Mund auf und meldete, daß die gnädige Frau den Herrn von Studmann um drei Viertel sieben zu sprechen wünsche.
Herr von Studmann sah auf seine Uhr und stellte fest, daß es ein Viertel nach sieben war, und sah den Diener Räder fragend an. Aber der verzog das Gesicht nicht und sagte keinen Ton.
»Also, ich gehe jetzt gleich, Pagel«, sagte von Studmann. »Warten Sie nicht auf mich mit dem Abendessen, fangen Sie immer schon an.«
Damit ging er eilig, langsamer folgte ihm der Diener Räder, und allein auf dem Büro blieb Wolfgang Pagel. Er fing aber noch nicht mit dem Abendessen an, er ging in dem sauberen, blitzenden Büro auf und ab, rauchte zufrieden seine Zigarette und sah dann und wann aus den weit offenen Bürofenstern in den sommerlichen, fröhlichen, grünen, von Vögeln durchlärmten Park.
Nach der Art junger Menschen dachte er nicht über seinen Zustand nach. Er ging so hin und her, rauchend, wechselnd zwischen Licht und Schatten. Ihn bedrückte nichts, er wünschte nichts – hätte er über seinen Zustand nachgedacht und hätte ihn auf den kürzesten Nenner gebracht, er hätte gesagt: Ich bin – fast – glücklich.
Vielleicht hätte er bei genauerer Prüfung ein leises Gefühl der Leere entdeckt, wie es die Genesenden empfinden, die eine lebensgefährliche Krankheit überstanden haben und noch nicht ganz wieder unter die Lebenden eingereiht sind.Er kam aus schwerer Gefahr, er hatte noch keine Aufgabe wieder im Leben, er gehörte nicht ganz dazu. Eine geheimnisvolle Macht, die seine Gesundung wollte, leitete seine Taten, mehr noch seine Gedanken. Sehr ungleich dem Herrn von Studmann, interessierte ihn nicht, was hinter den Dingen vorging, ihn interessierte jetzt nur ihre Außenseite. Instinktiv wehrte er sich dagegen, sich Sorgen machen zu müssen. Er studierte keine Pachtverträge, er berechnete nicht kummervoll die Höhe der Pacht; er fand, daß der alte Herr von Teschow ein fröhlicher, rauschebärtiger Greis sei, und wollte von Hinterlist und dunklen Absichten nichts wissen. Ihn befriedigten voll die einfachen, greifbaren Aufgaben des Lebens: das Hinausfahren auf das Feld, das Aufstaken des Roggens, der tiefe, traumlose Schlaf des Nachts aus äußerster körperlicher Ermüdung. Er war sorglos wie ein Genesender, oberflächlich wie ein Genesender – und fühlte wie ein Genesender, ohne es klar zu wissen, noch immer den schaurigen Anhauch aus jenem Rachen, dem er sehr knapp nur entronnen.
(Sehr viel später erst würde er seiner Mutter und vielleicht auch Petra schreiben. Jetzt nur Ruhe.)
Zufrieden und gedankenlos geht er auf und ab, wenn er mit der Zigarette fertig ist, wird er ein bißchen pfeifen. Morgen früh fängt die Einfahrerei wieder an – ausgezeichnet! Man hätte natürlich auch heute einfahren können, wie es alle Güter hier in der Nähe tun, aber die alte Gnädige auf dem Schloß (die er noch nicht zu sehen bekommen hat) soll gegen Sonntagsarbeit sein. Schön. Heute abend hat Studmann noch irgend etwas vor; was, weiß er nicht, aber es wird schon nett sein. Alles hier ist nett. Hoffentlich kommt der Oberleutnant bald zurück von der jungen Gnädigen, Wolfgang mag nicht gerne allein sein. Am wohlsten fühlt er sich mitten unter den Leuten.
Gedankenvoll bleibt er vor dem fichtenen Regal halten, auf dem in langen Reihen die schwarzen Jahresbände der Gesetze und Verordnungen stehen. Oben das Kreisblatt, untendas Reichsgesetzblatt. Reihe um Reihe, Band um Band, Jahr um Jahr verordnen sie, bestimmen, drohen, regeln, bestrafen von Urbeginn an bis in das Weltenende hinaus, und jeder einzelne rennt sich doch immer neu den Schädel in dieser geordneten Welt blutig.
Pagel hebt einen der
Weitere Kostenlose Bücher