Wolf unter Wölfen
schönsten Platz, den ich auf Erden hab, dem Muttergrab.
»Gott, da singen sie auch noch!« stöhnte am Schloßfenster Frau Belinde von Teschow zu ihrer Freundin Jutta. »Nicht genug, daß in meiner anständigen Waschküche das Essen für diese Mörder gekocht wird, soll ich nun auch noch ihr Grölen anhören! Elias, sagen Sie dem Herrn Geheimrat, er möchte doch einmal zu mir kommen. Mörder, die singen – es ist unerhört!«
»Sie kommen! Sie kommen!« riefen auch die Kinder im Dorf, und was nicht auf den Feldern zur Arbeit war, das ließ stehen, was stand, und fallen, was nicht stehen wollte, stellte sich an den Straßenrand und starrte – starrte mit allen Leibesöffnungen.
Die Zuchthausverwaltung hatte sich nicht lumpen lassen. Trotz der schlechten Zeiten hatte sie ihre Leute frisch eingekleidet. Da gab es keine verbrauchten Monturen, bei denen ein Flicken am andern hackt, keine Hose nur bis zur halben Wade für die Langen, keine Jacken zum Ertrinken für die Kurzen – hell und sauber, heil und passend saß ihnen die Tracht, stolz sangen sie jetzt ihr Lied: »Schmucke, schlimme Husaren sein’s wir!«
Die Leute an der Dorfstraße sperrten die Mäuler immer weiter auf. Wo waren denn nun die kahlgeschorenen Köpfe, von denen immer erzählt worden war? Wo waren die Ketten und Handschellen, die sie tragen sollten? Wo war das finstere, düster brütende Schweigen? Wo die bösen, rot unterlaufenen Blicke? Kein Kainsmal, kein Tierkopf, kein Rothaariger –: »Wenn du den Mund lange genug offengehalten hast, machst du ihn doch wieder zu, Mutter?« rief einer, und alle lachten.
Nein, Neulohe hatte zuviel erwartet, Neulohe hatte jedenfalls etwas ganz anderes erwartet. Was da einmarschierte, war eine Schar Männer in allen Altersklassen, große und kleine, dicke und dünne, hübsche, gleichgültige, häßliche – und jetzt waren sie alle in der besten Stimmung, dem öden, toten Zwang der Mauern aus Eisen, Glas und Zement entronnen, waren sie glücklich, die Welt wiedersehen zu können, die ganze freie Welt, nicht nur den kleinen, ihnen auch noch verbotenen Ausschnitt des Zellenfensters. Die frische Luft hatte sie frisch gemacht, die Sonne hatte sie durchwärmt, nicht mehr das ewige graue Einerlei, ein Tag wie der andere – neue Arbeit, ein anderer Speisezettel, Fleisch und Tabak, der Anblick, ach, schon der Anblick junger Mädchen, einer Frau, die eilig noch den Ärmel über den nackten Arm, der in das Mehlfaß gelangt hatte, hinunterschob.
Sie sangen:
»Wir sind des Teufels Husaren,
Wir wagten einst jeden Ritt,
Wir haben die Sünde erfahren,
Doch auch die Lie-be da-mit!«
Und die Wachtmeister lächelten auch. Auch die Wachtmeister waren froh, der Anstalt entronnen zu sein, dem einschläfernden Dienst mit seinem Kübeln, seinen ewigen Vorführungen, dem ständigen Streiten, Meckern, Beschweren, der nie aufhörenden Sorge vor Widersetzlichkeiten, Ausbrüchen, Revolten. Die Leute würden genug zu essen und zu rauchen kriegen, sie würden friedlich sein, es würde keinen Klamauk geben – trotzdem man das nie ganz sicher wissen konnte! –
Fast mit Wohlwollen blickten die Wachtmeister auf ihre Jungen. Es waren ja die Leute, denen sie ihre ganze Lebensarbeit widmeten, und nachdem die Beamten alle Gefühlsstufen von Verzweiflung, Haß, Gleichgültigkeit durchlaufen hatten, waren sie beinahe dahin gekommen, ihre Gefangenen zu lieben. Sie sahen so sauber aus, adrett in dem neuen Zeug, das sie gefaßt hatten, sie waren so lustig, sie sangen so vergnügt! – »Herr Wachtmeister, haben Sie den Hasen gesehen?« – »Herr Wachtmeister, das Latschen macht Kohldampf – heute mittag kriege ich aber drei Schläge!« – »Herr Wachtmeister, was gibt’s heute mittag – Gänsebraten?«
Sie waren ja wie die Kinder! Oh, die Wachtmeister wußten Bescheid: es waren natürlich keine Mörder unter ihnen, es gab überhaupt keine Langstrafigen in dem Kommando. Vier Jahre war schon hoch, die meisten waren Kurzstrafige, und die hatten auch alle schon über die Hälfte der Strafe abgerissen, oder fast alle. – Es waren keine schweren Jungen darunter, nicht die großen Kanonen des Ganoventums – aber trotzdem, trotz Singen und Fröhlichkeit, blieben sie doch immer Strafgefangene, das heißt Leute, denen man die Freiheit genommen hatte und von denen viele alles, oder fast alles, tunwürden, sich diese Freiheit wiederzuerobern. Mit Wohlwollen blickten die Beamten auf die Gefangenen und vergaßen doch nie, daß sie vielleicht das
Weitere Kostenlose Bücher