Wolf unter Wölfen
auszuschauen. Alles in allem war sie ein ganz nettes Mädchen und wahrscheinlich, da berlinisch angehaucht, ohne allzuviel Ziererei. Das gnädige Fräulein, Violet von Prackwitz, mit seinen Vormittagsküssen, wäre gefährlicher gewesen.
Aber da fiel ihm ein, daß er nicht aus dem Haus konnte, weder in den Gasthof noch zur Sophie! Er hatte einen Auftragangenommen, er erwartete einen Besuch, den er zu vertrimmen hatte: den besagten dämlichen Diener mit dem Fischkopp, Hubert Räder.
Eine Weile war Wolfgang Pagel nun durch die Dämmerung in seinen beiden Gemächern auf und ab gegangen, jetzt im Büro, jetzt in seinem Zimmer. Aber es verbessert eine schlechte Stimmung entschieden nicht, wenn man viertelstundenlang auf und ab geht und überlegt, wie man einen schuftigen Kerl bedrohen, einschüchtern und verhauen wird. So etwas erledigt man am besten ohne jede Überlegung aus dem Handgelenk. Aber was dann tun –?
Es war eine ziemlich auffallende Geschichte: wenn er sich mit irgendeinem Mädchen beschäftigte, heiße es nun Violet, Amanda oder Sophie, so lief es am Ende stets auf ein Erinnern an Peter hinaus. Nun, Peter war endgültig versunken und vergessen, Friede ihrer Asche, ein gutes, freundliches Mädchen, aber wie gesagt: Friede ihrer Asche! Immerhin konnte er endlich einmal seiner Mutter schreiben, ihr von seinen neuen Lebensumständen einiges berichten und zu größerer Beruhigung die Liquidation der Masse Petra Ledig melden. Das wäre immerhin erheblich besser, als hier tatenlos auf eine klägliche Schlägerei zu warten. Der Kerl war bestimmt ein Feigling!
Kurz entschlossen schaltete Pagel das Licht in seinem Zimmer ein, zog die Gardinen vor und holte sich Schreibgerät aus dem Büro. Nun noch das Jackett aus: in Sporthemd und Gürtelhose saß er bequem und luftig am Tisch und fing an zu schreiben.
Zuerst störte ihn noch der Gedanke an das Kommen Räders, aber bald vergaß er diesen Knaben Pflaumenweich ganz und ließ seine Feder laufen. Er schrieb von seinem Leben in Neulohe, ein bißchen schnoddrig, ein bißchen flapsig, wie man eben schreibt, wenn man dreiundzwanzig Jahre alt ist und nicht zugeben will, daß einem etwas Spaß macht. In fünf Sätzen zeichnete er ein Bild seines »Brötchengebers«, dann des rauschebärtig biederen Schwiegervaters, der aus allen Knopflöchernnach List und Heimtücke stank. Von vergangenen Dingen schrieb er nichts, nichts von einem weggenommenen Bild, nichts vom Verbleib einer immerhin beträchtlichen Geldsumme, gar nichts von einer in die Luft gegangenen Heirat. Weder Scham noch Verstocktheit hinderten Wolfgang, von diesen weniger angenehmen Dingen zu schreiben. Sondern solange man noch wirklich jung ist, glaubt man noch, daß das Vergangene auch wirklich vergangen sei, nämlich völlig abgetan. Man glaubt, daß man jeden Tag ein »neues Leben« anfangen kann, und man setzt bei all seinen Mitmenschen den gleichen Glauben voraus – bei der Mutter zumal. Man weiß noch nichts von jener Kette, die man ein ganzes Leben hinter sich dreinschleppen wird; jeder Tag, jedes Erlebnis fügt an diese Kette ein neues Glied. Man hört ihr Klirren noch nicht, man hat noch nicht die entmutigende, hoffnungslose Bedeutung des Satzes begriffen: Weil du dieses tatest, mußt du dieses sein!
Nein, dreiundzwanzig Jahre, hin ist hin, vergangen ist vergangen – Wolfgangs Feder läuft über das Papier. Jetzt zeichnet sie ein Bild Studmanns, des Kindermädchens und hauptamtlichen Belehrers; Pagels Laune steigt, der Geist seines Vaters fährt in ihn … Er entwirft am Rande des Briefes eine Karikatur Studmanns, er zeichnet ihn als ein betrübt vor seinem Bau sitzendes Kaninchen. Das Kaninchen sieht weise und töricht zugleich in die Welt – vor allem aber betrübt.
Pagel betrachtet zufrieden flötend sein Werk, es ist wirklich ähnlich. Dann hebt er den Blick und begegnet dem Auge des gnädigen Fräuleins: Violet von Prackwitz.
»Hoppla!« sagt Pagel ohne sonderliches Erstaunen über diesen ungewöhnlichen Zaungast. Dann: »Der Knabe Räder ist ausgeblieben?«
Sie schüttelt den Kopf. Dabei gleitet eine Schulter durch den Vorhang, und sanft legt sich unter ihr die Brust auf das Fensterbrett. Der durch die vorgebeugte Haltung weit offene Ausschnitt läßt die zarte Haut sehen, so verführend milchweiß neben dem dunklen Braun des Halses.
»Nein«, sagt Violet nach einem Augenblick des Zögerns.Sie sagt es langsam, als spräche sie unlustig, aus einem Schlaf heraus. »Räder hat noch für Papa
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