Wolf unter Wölfen
zu tun. Ich konnte ihn nicht schicken.«
Pagel wirft einen Blick auf das Mädchen. »Und Sie, meine Gnädigste?« fragt er gezwungen leicht. »Noch so spät unterwegs? Kein Stubenarrest mehr?«
Wieder wartet sie eine ganze Zeit mit der Antwort, während sie ihn unverwandt ansieht. »Ich war bei den Großeltern«, erklärt sie schließlich. »Ich wollte Ihnen doch Bescheid sagen …«
»Danke!« sagt Pagel, »ein bißchen zu spät.«
Es ist so still, warm und still. Die Brust auf dem Fenster, der atmende Mund, Geheimnis atmend, Erfüllung versprechend. Es ist so lange her … Alles wächst, reift, gedeiht … Verweile doch –!
»Ja …«, sagt Pagel nach einer Weile, verloren, träumerisch.
Dann ist wieder alles still, stille, dunkle, treibende Nacht.
»Kommen Sie einmal her …« flüstert sie plötzlich. So leise sie flüsterte, er fährt zusammen, als habe er einen Schlag bekommen.
»Ja –?« fragt er halblaut und ist doch schon aufgestanden von seinem Stuhle.
»Bitte, ja …«, flüstert sie wieder, und er geht ihr langsam näher.
Ohne daß er es weiß, hat sein Gesicht einen anderen Ausdruck bekommen, einen bitter entschlossenen Ausdruck, als schmecke er die Frucht schon, die nicht süß sein kann. Ihr Gesicht aber sieht weiter aus wie da, als sie in das Zimmer mit dem betenden Diener hineinspähte: halb schlafend, als spüre sie Grauen und Verzweiflung und Lust und Verlangen.
»Näher!« flüstert sie, als er einen Schritt vor ihr stehenblieb. »Noch näher!«
Es ist die Verführung der Stunde, und es ist die Verführung des hungrigen Fleisches, aber es ist auch die Verführung ihres Verlangens. Dieses Verlangen ist wie ein Netz, das ihn unspürbar umfängt, ihn näher zieht …
»Nun –?« fragt er leise, und sein Gesicht ist direkt bei dem ihren.
»Möchten Sie …«, sagt sie stockend, »möchten Sie mich nicht noch einmal küssen –?«
Und sie hebt ihm ihren Kopf entgegen; mit einer entschlossenen und doch kindlichen Bewegung bietet sie ihm die Lippen. Plötzlich stehen in ihren Augen Tränen … Ach, es ist nicht nur Verderbtheit, die sie die Lust in des andern Umarmung suchen läßt – es ist auch die Angst vor dem, der unaufhaltsam in ihr vordringt! Er hatte die Hand auf ihr Herz gelegt, von ihr Besitz ergriffen …
»Da!« sagte sie ratlos, und ihre Lippen begegneten sich. So blieben sie eine endlose Zeit. Auf seiner Hand, die sich auf das Fensterbrett stützte, lag ihre Brust, er fühlte durch den seidigen Stoff ihre Schwere und Reife, schöner als jede Frucht! – Waren es die Grillen, die draußen im Park zirpten –? Eine dünne, süße Melodie, wie von seinem Blut gesungen, weiter, immer weiter, ohne Absetzen, als sänge die Erde sie selbst, diese gute, fruchtbare Mutter Erde, die die Liebenden liebt … Eine endlose Zeit bleibt sein Mund auf ihren Lippen liegen …
Dann spürt er, daß sie unruhig wird. Sie möchte etwas sagen. Er will diese Lippen nicht loslassen, den Zauber nicht unterbrechen … Mit einer gelenkigen Bewegung schlüpft ihre linke Schulter aus dem Kleid. Während ihre linke Hand weiter auf seiner Schulter liegt, befreit die rechte die Brust …
»Da!« sagt sie klagend. »Leg deine Hand darauf – es ist so kalt …«
Und ehe er noch seinen Willen befragen kann, hat sich seine Hand schon um ihre Brust geschlossen.
»Oh!« seufzt sie und drängt ihre Lippen fester gegen die seinen.
Was denkt er? Denkt er überhaupt etwas? Die Flamme steigt und steigt. Er sieht etwas wie Bilder, eilige Bilder, vorüberfliegen, ein Gespensterspiel des Ehemals auf der Bühne seines Hirns. Das Zimmer bei der Pottmadamm, er erwacht und begegnet dem Blick Peters … die Flamme steigtund steigt … »Darf ich nicht mitkommen?« – so oder ähnlich fragte sie, und dann kam sie mit; in der gipsernen Marmorpracht eines Berliner Treppenvestibüls stellten sie sich einander vor: Petra Ledig – unvergeßliche Stunde.
Die Grillen feilen noch immer, aber es sind keine Grillen, Grillen leben nicht in einem Park, Grillen leben in Häusern – es sind Grashüpfer, Heuschrecken, die so singen, grüne, ziemlich grotesk ausschauende Tiere …
Da ist die Brust wieder in deiner Hand, du spürst sie wieder. Es ist die Brust, es war nur die Verführung des Fleisches, nicht die der Liebe. Lose, leise; lockere den Mund, wir dürfen das kleine Mädchen nicht erschrecken, es ist bloß verdorben. Aber es hat nichts für seine Verdorbenheit eingetauscht, nicht einmal Wissen. Es weiß nichts von
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