Wolf unter Wölfen
weiter, als sie im Bett lag.
»Ja, Dora«, sagte die Wirtin. »Ich muß zu meinen Pötten, die Herren kommen gleich zum Mittagstisch. Bleib du hier erst mal sitzen und ruf mich, wenn der Doktor kommt.«
Die Herren unten hatten sich dahin geeinigt, daß es die Wehen wären, die das Mädchen so schreien machten, obwohl man es ihm gar nicht angesehen hätte. Morgen würde der ganze Kreis wissen, was mit der Tochter des Rittmeisters von Prackwitz, einer Millionenerbin, los war. Und so ein Schnösel von Kerl!
Der Rittmeister achtete nicht auf das Geschwätz, er hatte zu trinken, er trank.
Oben schrie Violet.
Das Mädchen Dora hatte ein paarmal zu ihr gesagt: »Fräulein, schreien Sie doch nicht so! Es tut ihnen doch keiner was! – Warum schreien Sie denn so? Tut Ihnen was weh?«
Umsonst, das Ding schrie weiter. Mit einem Achselzucken: »Na, denn nicht!«, mit dem Gefühl, für Freundlichkeit Undank geerntet zu haben, setzte sich das Mädchen neben das Bett, aber nicht, ehe es sein Strickzeug geholt hatte. Dora saß und strickte an ihrem Pullover; in der Gaststube unten saß Herr von Prackwitz und trank; Violet, tödlich in ihrem Lebenszentrumverletzt, schrie nur noch. Keiner ist so geborgen, daß Unheil ihn nicht erreichen könnte – dem Mädchen Violet, einem halben Kinde, verspielt, ohne jede Ahnung vom wirklichen Leben, hatte sich der Wolfsrachen dieses Lebens aufgeschlagen. Nur noch Dunkel und Dämmer gab es, und aus der Finsternis den einen, ewig wiederholten Schrei: mir ist angst.
Der Arzt ließ auf sich warten, der Rittmeister trank zuviel. Umsonst hatten ihm Kellner und Wirtin zugeredet, etwas zu essen, und sei es bloß ein Teller Suppe. Herr von Prackwitz blieb bei seinem Portwein. Nur noch eine dämmernde Erinnerung von dem, was ihm an diesem Vormittag zugestoßen, war in den Dünsten des Alkohols verblieben. Aber diese letzte, blasseste Erinnerung, Unheil sei ihm widerfahren, sie war irgendwie mit Portwein verknüpft, und so hielt er sich an den Portwein. Allmählich, wie aus der ersten Flasche die zweite, aus der zweiten die dritte wurde, fing sein Gesicht purpurn an zu glühen, seine Haare schienen schlohweiß. Jetzt hob er den Kopf wieder straffer, er sah grade vor sich hin. Manchmal lachte er plötzlich auf, oder er schrieb mit geschwindem Zeigefinger viele Zahlen auf das Tischtuch und schien zu rechnen.
Der Kellner hatte ein wachsames Auge auf ihn. Der »Goldene Hut« war ein altrenommiertes Haus, so leicht konnte nichts seinen Ruf untergraben. Aber am Ende war es genug an einem Gast, der im Lokal gelegen hatte, nach der Tochter muß es nicht auch noch den Vater treffen. Frau Eva von Prackwitz, die so eilig in den Wagen steigt und allen Ärger und alle Scherereien mit der Ententekommission dem jungen Pagel überläßt, dem einzig übriggebliebenen Vertreter von Herrschaft und Beamtenschaft des Gutes Neulohe – Frau Eva ahnt nicht, daß weder Mann noch Tochter sie sehnlich erwarten. Nur ein Oberkellner wünscht sie herbei, daß es nicht noch eine Szene gebe. Frau Eva sagt zu dem Chauffeur: »Fahren Sie rasch!« – Der Chauffeur antwortet: »Jawohl, gnädige Frau – aber die Wege!«
Sie lehnt sich in ihre Ecke, sie überläßt sich ihren Sorgen,Gedanken, Ängsten. Unheil fällt ihr Haus an, alles löst sich auf. Zehnmal ist sie in der Versuchung, die Scheibe wieder aufzustoßen und Herrn Finger neu zu befragen. Aber sie bleibt dann doch in ihrer Ecke, es ist nutzlos, der Mann weiß nichts. Er ist erst gerufen worden, als Violet bewußtlos in der Gaststube lag. Als man sie dann in den Wagen hat tragen wollen, fing sie an zu schreien.
»Glauben Sie denn, daß sie sich was gebrochen hat?« hat Frau Eva gefragt.
»Gebrochen? Nein«, hat Herr Finger geantwortet.
»Aber warum hat sie denn geschrien, Finger?« hat Frau Eva gefragt.
Doch darauf hat Finger keine Antwort gewußt. Und kein Wort, keine Botschaft von ihrem Mann. – »Ach, Achim, Achim!« seufzt Frau Eva wieder einmal und weiß noch gar nicht, wie sehr sie Ursache hat, über ihren Mann zu seufzen.
Denn jetzt erzürnt sich der Rittmeister in der Gaststube. Ein paarmal ist er aufgestanden von seinem Stuhl, er hat sich am Tisch festgehalten und argwöhnisch auf den Marktplatz gespäht. »Was ist denn? Ist etwas nicht in Ordnung?« hat der Kellner besorgt gefragt. »Darf ich vielleicht etwas zu essen bringen? Brathuhn ist heute sehr gut.«
Der Rittmeister hat den Kellner böse angestarrt mit einem wild flackernden, geröteten Blick. Er
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