Wolf unter Wölfen
nachsehen; oft schlafen solche Angetrunkenen auf der Toilette ein. Schadet auch nichts, da ist er wenigstens sicher aufgehoben.
Der Kellner serviert eifrig. Er läuft, schleppt Tabletts, bringt Bier, rechnet ab – obwohl heute die Offiziere ausgeblieben sind, geht das Geschäft ausgezeichnet. Sie haben schon über sechzig Tischgäste gehabt – fast nur einzelne Herren, die wohl vom Lande ein bißchen horchen gekommen sind, was eigentlich morgen werden soll. Vielleicht muß man doch noch schnell Anschluß suchen?
Während der Kellner arbeitet, kommt der Arzt. Er wird in den zweiten Stock gewiesen, er findet dort ein junges Mädchen im Bett, das in kurzen Abständen mit einem tierischen Schmerzlaut aufschreit und dabei den Kopf mit geschlossenen Augen hin und her rollt.
Das Mädchen am Bett kann dem Arzt keine Auskunft geben, sie weiß nicht, wer die Kranke ist, was ihr fehlt – aber sie wird die Wirtin rufen.
Der Arzt steht allein am Bett der Kranken. Er wartet eine Weile, aber es bleibt alles, wie es ist: Die Kranke schreit, und niemand kommt. Um etwas zu tun, fühlt der Arzt den Puls. Dann spricht er ein paar Worte zu der Kranken, ob sie Schmerzen habe, was ihr passiert sei? Die Kranke hört nicht. Versuchshalber schreit er die Kranke auch an, sie soll still sein, aber sie reagiert nicht, sie hört ihn nicht. Er hält ihr den Kopf fest, der Kopf liegt still zwischen seinen Händen, aber sobald er ihn losläßt, fängt er wieder an zu rollen und zu schreien.
So zuckt der Arzt die Achseln und stellt sich wartend ans Fenster, das graue Wetter zu betrachten. Der Ausblick ist nicht tröstlich, die Schreie sind nicht tröstlich – außerdem hat der Doktor nach einem schweren Vormittag Hunger. Er findet, die Wirtin könnte endlich kommen.
Endlich kommt sie denn, sie hat schlecht aus ihrer Küche weggekonnt, und auch jetzt ist sie sehr in Eile.
»Gott sei Dank, Herr Doktor, daß Sie endlich da sind! Was ist denn mit der Kleinen –?«
Genau das, was der Doktor wissen möchte.
»Ja, und nun ist der Vater auch verschwunden. Rittmeister von Prackwitz-Neulohe, wissen Sie, der Schwiegersohn von dem alten Geizkragen Teschow, hat drei Flaschen Portwein getrunken und ist völlig dun in den Regen gelaufen, ohne Hut und Mantel. Ich lasse schon nach ihm suchen. Was es auch alles gibt! An manchen Tagen kommt alles zusammen! Was wollen Sie denn mit der Kleinen machen? Die Mutter ist im Auto unterwegs – in ein, zwei Stunden kann sie hiersein!«
»Was ist denn mit dem kleinen Fräulein passiert?«
Die Wirtin weiß es auch nicht recht, der Kellner wird gerufen –. »Mein ganzer Betrieb kommt durcheinander, grade heute muß das passieren, wo wir so viel Tischgäste haben!«
Aber der Kellner weiß auch nicht mehr zu sagen, als daß es irgendeine Auseinandersetzung mit einem jungen Mann gegeben hat.
»Also eine Liebesgeschichte«, sagt der Arzt. »Wahrscheinlich ein schwerer Nervenschock. Ich werde die Kleine erst mal schlafen lassen – und dann, wenn die Mutter da ist, komme ich noch mal vorbei …«
»Ja, machen Sie nur, daß sie schläft, Herr Doktor! Das Geschrei kann man ja nicht mehr anhören, und ich kann auch nicht immer jemand an ihrem Bett sitzen lassen. Wir haben hier auch unsere Arbeit, wir sind kein Krankenhaus …«
Der Doktor hört sich das an, ähnliches muß er am Tag hundertmal hören. Er wundert sich immer von neuem darüber, daß die Menschen nicht müde werden, dem Arzt zu erzählen, daß sie grade jetzt nicht die geringste Zeit für Krankheiten haben, daß die Krankheit kein erwünschter Gast ist. Aber die Menschen erzählen das ihren Ärzten immer wieder.
Der Arzt zieht in seiner Spritze ein leichtes Schlafmittel auf. Er sticht die Nadel in den Unterarm ein – und dieKranke zuckt zusammen, für einen Augenblick unterbricht sie ihr Geschrei!
Nachdenklich steht der Arzt da, er drückt noch nicht auf den Kolben der Spritze. Dieses Zucken, diese Unterbrechung passen nicht zu so einem schweren Nervenschock. Sie dürfte den leichten Stich gar nicht gespürt haben – sie hat ihn aber gespürt! Also ist sie bei Bewußtsein, sie simuliert nur Bewußtlosigkeit!
Es ist kein junger Arzt mehr, der da an dem Krankenbett von Violet von Prackwitz steht. Es ist ein älterer Mann, er ärgert sich nicht mehr, wenn seine Patienten schwindeln. Er hat so viel Menschen unter den Händen gehabt – ach, Menschen, Menschen –! Er hat keine lehrhaften, erzieherischen, moralischen Absichten mehr. Wenn dieses junge
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