Wolf unter Wölfen
Und kam nicht wieder.
In den ersten Oktobertagen hatte Wolfgang Pagel den Kopf viel zu voll mit tausenderlei Dingen, um sich besonders lebhafte Sorgen um die alte Fachwerkscheune, das Schloß, zu machen. Aber dann lief er der Amanda eines Tages in den Weg, und sie stellte ihn und fragte ihn auf den Kopf zu, was er sich denn eigentlich denke, was er sich einbilde? Sie graule sich ja nicht gradezu in dem großen, alten Kasten als einzige Bewohnerin, aber angenehm sei es auch wieder nicht. Und es müsse unbedingt etwas geschehen oben, ehe die alte Herrschaft wiederkomme, es liege von der Sauferei herum wie Kraut und Rüben, und im Saal seien auch zwei Fenster zerbrochen. Jetzt regne es hinein, und die Pfützen ständen auf dem Parkett seit Tagen!
Pagel, der abgehetzte, ein wenig niedergeschlagene Pagel, der in drei Tagen keine zehn Stunden Schlaf bekommen hatte, sah die rotbäckige, derbe Amanda nachdenklich an, rieb sich das reichlich unrasierte Kinn und fragte: »Ja, wollen Sie denn nicht auch rücken, Amanda?«
»Und wer soll mein Geflügel besorgen?!« hatte sie recht empört dagegen gefragt. »Jetzt grade, wo es in den Winter geht, wo die Enten und Gänse fett werden sollen und wo man gar nicht genug zufüttern kann? Ich und rücken –? Keine Ahnung!«
»In der Villa suchen sie händeringend nach einem vernünftigen Mädchen«, hatte Pagel vorgeschlagen. »Sie werden es ja gehört haben, die Lotte ist jetzt auch fortgelaufen. In die Villa möchten Sie wohl nicht?«
»Nein«, hatte Amanda Backs mit aller Deutlichkeit geantwortet. »In die Villa will ich nicht. An die Doofheit von meinem Federvieh bin ich gewöhnt, aber an die Doofheit von meinen Mitmenschen werde ich mich nie gewöhnen. Die macht mich immer fuchsteufelswild, und dann tauge ich zu nichts.«
»Schönschön«, hatte Pagel eilig gesagt. »Ich gebe Ihnen dann heute abend Bescheid.« Und war fortgegangen.
Er hatte vorgehabt, mit der gnädigen Frau über diesen gar nicht in seinem Geschäftsbereich liegenden Fall zu sprechen. Aber die gnädige Frau war wieder mit dem Wagen fortgefahren, und es war ungewiß, wann sie zurückkommen würde. Der Rittmeister schied für alle Rückfragen aus; der lag noch immer recht unruhig zu Bett, und der vom Arzt bestellte Krankenpfleger saß bei ihm und hatte mit dem oft aufgeregten Manne mehr zu tun, als ihm lieb war. Und sonst gab es in dem großen, volkreichen Neulohe keinen Menschen, den er um Rat fragen konnte.
So ließ sich denn, nach einigem Nachdenken, der junge Wolfgang Pagel am Telefon das Hotel Kaiserhof in Berlin geben und verlangte den Herrn Geheimrat von Teschow-Neulohe zu sprechen.
»Bedaure sehr, die Herrschaften sind abgereist.«
»Abgereist?« Es gab ihm doch einen Stoß. »Wann bitte?«
»Am dritten Oktober.«
Also direkt nach der Ankunft des alten Elias, nach seinem Bericht.
»Wollen Sie mir bitte seine Adresse geben!«
»Bedauern sehr – es ist uns ausdrücklich untersagt, die Adresse weiterzugeben!«
»Hier spricht die Gutsverwaltung Neulohe – die Gutsverwaltung des Herrn Geheimrats selbst«, sagte Pagel mit allseiner Selbstbeherrschung. »Ich brauche seine Adresse unbedingt für eine sehr wichtige Entscheidung. Ich müßte Sie für allen aus der Verweigerung entstehenden Schaden haftbar machen!«
»Einen Augenblick bitte. Ich will mal nachfragen. Bleiben Sie am Apparat.«
Nach einigem Hin und Her bekam Wolfgang dann doch die Adresse. Er brauchte sie nicht, aber es interessierte ihn, wo diese Leute hinfuhren, wenn ihre Tochter verzweifelt, ihre Enkelin verloren war.
Die Adresse lautete: »Nizza, Frankreich, Azurküste, Hotel Imperial.«
»Ich danke verbindlichst«, sagte Wolfgang und legte den Hörer auf.
Eine Weile saß er still, mit einem aufmerksamen Gesicht. Sein Auge sah nichts auf dem Büro. Sondern es sah etwas anderes. Es sah die kleine vertrocknete Frau mit dem scharfen Vogelgesicht und den eiligen Augen. Sie hetzte die Dienstboten von einer Arbeit zur andern, sie war hohl wie eine taube Nuß, aber sie füllte sich mit dem Leben der andern, mit jedem Leben, ganz egal welchem! Sie hatte aus der Religion eine Beschäftigung gemacht, sie benützte sie, um in die andern hineinzukriechen. Sie war wie eine Made, sie lebte von den verwesten Lebensabfällen ihrer Mitmenschen.
Er sah den grimmigen Rauschebart mit seiner falschen Fröhlichkeit, kräftig schwitzend, in Loden gekleidet. Dort unten, an Frankreichs Azurküste, würde er ja nun keinen Loden tragen, aber damit war
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