Wolf unter Wölfen
alles wußte, was ihr zu wissen not tat, fühlte sie auch kein Bedürfnis, weiterzureden. Leise räumte sie den Tisch ab, brachte das Geschirr fort und setzte sich an den Ofen, damit er die halbe Stunde nun auch wirklich einmal Ruhe hatte.
Aber er wird ja doch nicht schlafen, sondern wieder seinen Brief lesen!
4
Pagel hatte wirklich seinen Brief erst noch einmal lesen wollen, aber kaum lag er da, kam die Müdigkeit wie eine große, angenehm warme, angenehm dunkle Welle über ihn. DieSätze, daß er Anfang Dezember Vater werden und daß Petra ihm bald einmal selbst schreiben werde, nahm er mit in seinen Traum. Eine heitere Leichtigkeit ging von ihnen aus, und lächelnd schlief er ein.
Sein Traum aber war von einem Kinde, und er selbst sah dieses Kind, das er auch war. Mit einem leichten Verwundern erblickte er sich, wie er in einem weißen Matrosenanzug mit blauem Kragen und gesticktem Anker auf einem Grasplatz stand, und über ihn breitete ein Mirabellenbäumchen seine Zweige aus, die über und über voll saßen von kleinen buttergelben Früchten.
Er sah sich, wie er sich hochreckte nach den Zweigen, er sah seine nackten Knie zwischen Wadenstrümpfen und Hose und sah, daß sein eines Knie aufgeschlagen, aber schon wieder verschorft war. Das muß ich schon einmal als Kind geträumt haben, sprach er zu sich im Traum und sah sich doch als Kind nach den Zweigen langen. Auf die Zehenspitzen stellte er sich und erreichte die Zweige doch nicht.
Da rief ihn eine Stimme an, und es mußte ja wohl der Mama Stimme von der Veranda her sein, aber nein, die Stimme kam mitten aus der dichten Krone des Bäumchens, und es war Peters Stimme:
»Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich –
Wirf alle Pfläumchen über mich!«
Da rüttelte sich das Mirabellenbäumchen und schüttelte einen goldenen Regen seiner kleinen Pflaumen über ihn, und sie fielen, immer mehr, immer dichter, immer goldener. Der grüne Rasen wurde ganz gelb von ihnen, als blühten hunderttausend Dotterblumen, und das Kind, das er war, bückte sich jauchzend und schreiend danach …
Das Kind blickte lächelnd auf das Kind. Aber langsam ward ihm klar, im Traum, daß er ein Mann war, dem keine Früchte geschüttelt wurden von keiner Petra. Darüber zerrann der schöne Traum in ein mildes, weites Dunkel, in das gut einzugehen war. Der Schläfer ging gerne darin ein, erging ein darin mit dem Gedanken: Wenn mich nur nicht gleich wieder einer stört …!
»Nein, jetzt kann ich ihn nicht stören«, erklärte Amanda auf dem Büro. »Da müssen Sie eben später noch einmal kommen.«
Sie sah kriegerisch die Sophie Kowalewski an. Aber Sophie tat gar nicht kriegerisch. Sie bat höflich: »Vielleicht darf ich hier auf ihn warten?«
»Wenn er aufwacht, muß er gleich aufs Feld, da hat er keine Zeit für Sie«, sagte Amanda abweisend.
»Wo er mich doch durch meinen Vater herbestellt hat«, erklärte Sophie nicht ganz der Wahrheit gemäß. »Herr Pagel möchte nämlich, daß ich Kartoffeln buddle!« Sie lachte bitter.
»Kartoffeln buddeln«, wiederholte Amanda. Die beiden standen noch immer, die eine am Ofen, die andere am Fenster. »Das hat Herr Pagel richtig gemacht. Kartoffelbuddeln ist immer noch besser als …«
Sie brach wirkungsvoll ab.
»Als was, Fräulein? Als den Ofen festhalten, daß er nicht umfällt? Da haben Sie sicher recht!«
»Manche denkt«, erklärte die Backs abweisend, »sie ist alleine schlau. Aber zuviel Schlauheit macht dumm, hat Fräulein von Kuckhoff immer gesagt. Und so ist es.«
»Sind Sie da nun auch schlau, oder sind Sie dumm?« fragte die Kowalewski lieblich. Sie setzte sich in den Schreibtischstuhl.
»Das ist kein Platz für Sie, Fräulein!« rief Amanda zornig und rüttelte an der Lehne des Stuhls. »Für Sie wird woanders ein Platz frei gehalten …«
Sophie wurde hellhörig. Aber so schnell war sie nicht zu bremsen, erst einmal blieb sie sitzen. »Wenn ich gehen muß, wird es mir der Herr Pagel schon sagen«, erklärte sie kühl. »Sie machen hier doch nur die Betten, Fräulein.«
»Aber ich lege mich nicht rein, ich nicht!« rief Amanda und riß an dem Stuhl, daß die Lehne knackte.
»Es wird nicht an Ihnen liegen, Fräulein. Der Herr hat vielleicht einen besseren Geschmack als sein Vorgänger.«
»Das sagen Sie mir, Fräulein?« rief Amanda und trat mit schneeweißem Gesicht zurück.
Das Gefecht war jetzt auf dem Höhepunkt, die Pfeile waren verschossen, und mancher hatte getroffen. Es stand nun der Nahkampf bevor – ein
Weitere Kostenlose Bücher