Wolf unter Wölfen
zu einer letzten, äußersten Anstrengung auf: Der alte Förster Kniebusch kriecht auf allen vieren über den Waldboden, und als er über einen Sack wegkriecht, faßt er den und schleppt ihn auch noch mit, in dem dunklen Gefühl, ein Beweisstück gegriffen zu haben.
Er kriecht, wie eine grüne, grausige Schnecke mit einempurpurroten Kopf kriecht er über den Waldboden. Er kriecht hinauf auf den Mietenplatz, jetzt hebt er den Kopf voller Hoffnung. Aber niemand ist zu sehen.
Er jammert: O mein Gott, mein Gott! Hilft mir denn keiner?
Aber er kriecht weiter. Er kriecht hinunter von dem Mietenplatz auf den Weg, und als er am Park entlangkriecht und unten im Zaun ein sonst nie bemerktes Loch sieht – das er eben nur sehen kann, weil er kriecht –, da schiebt er sich durch das Loch, um seinen Weg abzukürzen …
Er tut alles richtig, exakt, als arbeite sein Hirn noch. Aber sein Hirn dämmert nur noch, alles, was Körper und Geist hergeben können, wird von dem ungeheuren Willen verbraucht, der ihn zum ständigen Weiterkriechen zwingt. Er denkt nicht mehr an Pagel, nicht mehr an Bäumer, nicht an Eiseskälte noch Wunden. Er denkt nicht mehr an den Sack, den er doch unter Qualen immer weiter mitzerrt – er denkt nur, daß er kriechen muß. Kriechen, kriechen, kriechen … bis er umfällt. Und er fällt in dem Augenblick um, als ihn Pagel anruft: »Mein Gott, Kniebusch, lieber Kniebusch – was haben sie denn mit Ihnen gemacht?!«
In diesem Augenblick, bei dieser bekannten Freundesstimme setzt der Wille aus, der Körper fällt hin, das Kriechen hört auf …
Gemeinsam schleppen Amanda und Pagel den Förster in Wolfgangs Zimmer. Sie legen ihn in Wolfgangs Bett. Aber den Sack können sie nicht aus seiner Hand lösen, es ist, als seien die Finger eingewachsen in den Stoff.
3
Es wäre ja nun wohl die bitterste Ironie von der Welt gewesen, wenn der Förster Kniebusch im fremden Bett gestorben wäre, ohne dem Freund die Meldung, für die er so heroisch gelitten, noch machen zu können. Aber so schlimmmeinte es der Todesengel nicht mit ihm. Er konnte noch einmal die Augen aufschlagen; nahe über ihm war das weiße Gesicht des Freundes mit den großen, freundlichen Augen. Er durfte noch einmal die gute Stimme hören: »Ach, alter Kniebusch, was haben Sie uns doch für einen Schreck eingejagt! Warten Sie nur, gleich ist der Doktor hier, der flickt Sie schon wieder zusammen! Haben Sie arge Schmerzen?«
Aber der Förster bewegte nur unwillig den Kopf. Arzt und Schmerzen gingen ihn nichts mehr an. Er war schon hinabgetaucht in das Dunkel, und er war nur noch einmal daraus zurückgekehrt, weil er etwas erledigen mußte, die Meldung.
Und er flüsterte seine Meldung mit abgerissenen Worten in Pagels Ohr, und Pagel nickte immer wieder und sagte: »Gut, gut, Kniebusch. Leiser – strengen Sie sich nicht an, ich verstehe alles …«
Der Förster flüsterte weiter, jedes Wort tat ihm weh. Aber jedes Wort war notwendig, und darum mußte es gesagt werden. Als er aber endlich doch fertig war, sah er Pagel mit so flehenden, so gierigen Augen stumm an, daß auch der Stumpfeste die dringliche Frage, die in diesem Blick lag, verstanden hätte. Und der Stumpfeste war ja Wolfgang Pagel nun wirklich nicht!
»Guter Mann!« sagte Pagel und drückte dem Förster sanft die Hand. »Sehr guter Mann!«
Da lächelte der Förster befreit, wie er vielleicht nie in seinem Leben gelächelt hatte. Und dann schien er einzuschlafen, und Pagel saß neben ihm. Er hielt die schlaffe Greisenhand, und er bedachte das Gehörte, und es war wenig genug, denn den einen Mann hatte der Förster nicht gesehen, und den er gesehen hatte, den hatte er nicht gekannt.
Wie Pagel aber so trübe dasaß, fiel sein Blick auf den alten, beschmutzten Kartoffelsack zu seinen Füßen. Denn die Hand des Sterbenden hatte ihn losgelassen, als sie nach der Hand des Freundes faßte. Er stieß den Sack mit dem Fuß an und wendete ihn hin und her, und es schien ihm, als säße unterall dem Dreck, mit dem der verklebt war, eine schwarze Schrift wie ein Name, mit dem die Leute ihre Deputatsäcke zeichnen.
Da bückte sich Pagel und griff nach dem Sack mit der freien Hand. Er legte ihn sich übers Knie und wischte mit der Hand den Dreck fort – aber die Hand des Sterbenden ließ er noch nicht los. Es gelang ihm, und die Schrift wurde Buchstabe um Buchstabe leserlich, schwer leserlich, aber leserlich. Und als sie ganz leserlich war, da stand da der Name: Kowalewski.
Wolfgang Pagel
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