Wolfgang Ambros - Die Biografie
anderen.
Meine nächste Station war Rekawinkel. Wir sind in der Zeit alle zwei Jahre umgezogen, diesmal in eine Schule, weil mein Vater dort Lehrer war. Das Haus steht heute noch, auf einem steilen Hang etwas oberhalb der Straße. Das Spannende war, dass die Nachbarsfamilie eine Tochter in meinem Alter hatte, die Marianne, mit der ich mich angefreundet und in weiterer Folge dann Doktor gespielt habe. Wir hatten viel Platz im Garten und damit viel Freiheit. Da konntest du irgendwo in den Bäumen verschwinden, es hat sich niemand so recht drum gekümmert. Es konnte sich auch niemand so recht kümmern, weil alle irrsinnig damit befasst waren, das Wirtschaftswunder in Gang zu bringen. Jeder hat geschaut, dass er irgendwo bleibt, und wir Kinder haben eine feine Kindheit gehabt.
Die zweite Attraktion neben der Marianne war ein Tretroller. Ganz primitiv aus Holz, ich weiß gar nicht, ob auf den Rädern schon Gummi drauf war. Mit dem hat’s mich fulminant zerlegt. Was jetzt einmal keine Schwierigkeit darstellt in der Gegend.Oben auf dem Rekawinkler Berg hast du das Wirtshaus, damals auch noch einen Greißler, danach geht die Straße wieder bergab und halb rechts führt fast parallel dazu ein schmaler Weg zu unserem Haus hinauf.
Das war natürlich ein Traum für mich. Ich bin auf dem Roller gestanden wie ein Ritter und habe mich hinuntergestürzt, den Tod verachtend. Nur einmal halt doch eine Spur zu wild und es hat mich aufgeprackt, ich hab mich überschlagen und war von oben bis unten zerschunden. Autoverkehr gab es noch kaum, aber trotzdem hatte ich immenses Glück, dass es mich nur auf dem Schotterweg zerbröselt hat und ich nicht auf die Straße geflogen bin, sonst wäre mir vielleicht doch ein Goggomobil über den Schädel gefahren. Das war der allererste richtige Stern, den ich gerissen hab.
Der zweite kam gleich im darauf folgenden Winter, in dem ich meine ersten Skier gekriegt habe. Mein Vater hat hinter dem Haus eine Piste freigetreten, mich hinaufgezogen, hingestellt und gesagt: »Da! Schneepflug fahren!«
Ich bin im Schuss runter. Mir hat es die Füße auseinandergerissen, Arme und Beine waren dort, wo sie von Natur aus auf keinen Fall hingehören. Ich weiß nur noch schemenhaft, dass ich meine Mutter schreien gehört habe, ich war damals nicht älter als vier.
Leser: »Unterbeschäftigt waren deine Schutzengel ja nie.«
Sicher sind da ein paar Dinge passiert, die ich hätte vermeiden können. Trotzdem will ich mir keinen akuten Leichtsinn unterstellen. Bei allem, was mir zugestoßen ist, war es nie so, dass ich einen Unfall herbeiführen wollte. Und bis heute habe ich mir dabei nie einen Knochen gebrochen, nicht einmal den kleinen Finger.
Leser: »Kompliment an deine Mutter, normalerweise hat man kein Einzelkind, um das man sich Sorgen für zwei machen muss.«
Das Kompliment verdient sie über die Maßen, aber anders, als du glaubst. Ich bin nämlich kein Einzelkind, ich habe einen Bruder, und die Sorgen, die sie mit ihm haben musste, sind von ernsterer Natur. Der Michl kam am 13. April 1956 auf die Welt, ebenfalls in der Semmelweisklinik. Er war zu früh dran, ein Sieben-Monate-Kind,was heute ein Klacks wäre. Dort und damals war es kein Klacks. Mein Bruder hatte einen Hüftschaden und nichts wurde dagegen unternommen. Um es kurz zu machen: Der Michl ist heute schwer behindert, nicht geistig, Gott sei Dank, aber er hat Koordinationsprobleme und ist Spastiker. Und das alles völlig unnötig. Er lebt heute in Ungarn.
Leser: »Habt ihr Kontakt zueinander?«
Na, freilich. Hin und wieder kommt er her, und wenn es sich ausgeht, fahre ich zu ihm. Ich habe mich immer gefreut, einen Bruder zu haben. Auch damals als Fünfjähriger, als er geboren wurde. Obwohl ich, wie vermutlich jedes Kind, das ein jüngeres Geschwisterl kriegt, bald einmal gespürt habe, dass ich eindeutig nicht mehr die erste Geige spiele. Und dass von mir erwartet wird, ich möge mich um den Michl kümmern.
Was ich auf meine Art auch getan hab. Ich habe ihn mitgeschleift. Von seinen Einschränkungen hat man anfangs nichts bemerkt. Der Michl war vielleicht ein bissel langsamer, aber das hat keine Rolle gespielt, für mich war das ganz normal. Wir waren ja nur Buben. Er war einfach dabei. Erst irgendwann viel später, er war sicher schon neun oder zehn, konnte er auf einmal nimmer dabei sein.
Am Land laufen die Dinge anders ab. Man nimmt sie hin und aus. Man akzeptierte sein Los und das der anderen als etwas Gottgewolltes. Ein Unterschied
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