Wolfgang Ambros - Die Biografie
Augen verbinden und ich würde den Weg finden.
Ein Wildfremder in Milina spricht uns an und will unbedingt mitfahren, eine Runde mit dem Motorboot. Der Mann ist Mitte vierzig, schwer behindert, Kinderlähmung. Ich traf ihn im Wirtshaus Panoukla, er erzählte mir, er sei Kernphysiker. Wir redeten über Tschernobyl, er fand, dass die Nachwirkungen gar nicht so schlimm seien, wie alle behaupteten. »Ich weiß nicht«, sagte ich, »ich verstehe zwar nichts davon, aber wenn du es sagst, wird’s schon stimmen.« Auf jeden Fall war es interessant, ihm zuzuhören. So oft triffst du auch keinen Kernphysiker. Aufs Wasser mitnehmen möchte ich ihn trotzdem nicht.
Ich habe ein eigentümliches Gefühl, keine Vorahnung, nur etwas Vages, das im Hinterkopf ein Warnlicht anknipst. Ein leises Besser-nicht. Lass die Finger davon. Sag nein. Ich versuche den Mann abzuwimmeln. Heute nicht, vielleicht ein andermal. Wir treffen gleich Freunde, drüben in Petraki. Es passt nicht wirklich gut in den Tag. Alles Gute, mein Freund, ich mache mich vom Acker.
Der Mann lässt nicht locker. Gehen S’, Herr Ambros, bitte, erfüllen Sie mir doch nur diesen einen Wunsch. So gern wolle er raus aus dem Rollstuhl, einmal aufs Wasser, nur eine Runde. Unbedingt. Bitte. Dauere ja nicht lange. Wolken ziehen auf wiestumme Vorboten, grauschwarzer Kassandrahauch am Himmel. Ein anderer sagt: »Jetzt hab dich doch nicht so, Wolferl, tu ihm den Gefallen, der Mann ist behindert, schau, dreh mit ihm eine Runde.« Ich überlege. Ich drehe keine Runden. Ich fahre mit einem Boot von A nach B und transportiere irgendwas, aber Vergnügungsreisen in dem Sinne mache ich selten. Und wenn, dann nur mit Leuten, die ich kenne. Der Kernphysiker schaut mich an wie ein Kind im Spielzeuggeschäft. Ich will ihm nicht als Unmensch in Erinnerung bleiben. »Gut«, sage ich, »kommst halt.«
Wir heben ihn in das Boot hinein. Der Mann strahlt vor Lebensfreude. Er will ein Abenteuer. Ich stehe hinter dem Steuer und drücke den Gashebel nach vorn. Der Motor brüllt auf wie bei einem Sportwagen. Ein paar Leute sind noch mit im Boot, alle stehen, nur der Mann sitzt hinten auf der Bank. Weißes Leder. Die Schraube schäumt das Kielwasser auf.
Das Motorboot rauscht über die See, es zieht eine Parabel vom Hafen hinaus aufs offene Meer. Die Passagiere jauchzen. Der Mann lacht. Ich kann seine Freude heute noch hören. In Albträumen habe ich sein Lachen wieder und immer wieder im Ohr. Mit der Zeit hat es sich zum Schrei verzerrt.
Ich lenke scharf in eine Kurve, um den Leuten was zu bieten. Das Boot vom Nockerl ist auf einmal da, direkt vor mir, er muss genau zur selben Zeit in die andere Richtung eingelenkt haben. Die Boote krachen ineinander. Es geht alles so schnell, dass ich nicht einmal Zeit habe, mich zu schrecken. Mir ist nicht klar, was geschieht. Die Wucht des Aufpralls schleudert die Menschen durch die Luft, mich auch. Der Reihe nach klatschten wir im Wasser auf. Ich weiß nicht, wo oben und unten ist. Ich schlucke Salzwasser, huste und schüttle den Kopf, als könnte ich damit etwas ungeschehen machen. Die Boote gekentert. Zwei Wracks. Menschen tauchen auf. Ihre Blicke hetzen über das spiegelglatte Wasser. Was ist passiert? Ist was passiert?
Wir bergen den Mann. Er rührt sich nicht mehr. Er ist tot. Er war gleich tot, das wird später festgestellt. Er ist nicht ertrunken. Er hat sich das Genick gebrochen. Wir stehen an Land, allemit blassgrauen Gesichtern. Niemand sagt etwas. Die Stille ist entsetzlich. Jetzt weiß jeder, was geschehen ist. Soeben ist ein Mensch vor unseren Augen gestorben. Gerade noch war er so glücklich. Er hat für ein paar Minuten seinen Rollstuhl vergessen. Jetzt liegt er auf dem Asphalt, den Kopf unnatürlich zur Seite gedreht. Trotzdem sieht er aus, als würde er schlafen. So stirbt man also.
Von einer Sekunde auf die andere. Niemand hat es geahnt. Zwei Boote fahren zusammen, Crash und aus. Der Tod braucht keine Einladung. Er ist auf einmal da. Und sofort wieder weg. Lässt nur einen Körper zurück.
Alles hatte sich geändert. Alles. Die Party war aus. Ich befand mich in einem Schwebezustand stummer Sinnlosigkeit. Warum, denkst du immer wieder, warum.
Am nächsten Tag stand es schon in der Zeitung. Ein Freund rief mich an und fragte, was da wirklich geschehen sei. »Ein Unfall«, sagte ich, »ein furchtbarer Unfall, aber woher weißt du …«
»Die Zeitungen sind voll davon.«
Wie das möglich war, habe ich später erfahren. Der Typ, der immer
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