Wolfgang Ambros - Die Biografie
Tag hast du eine neue Situation und die
ist unmittelbar mit dem Mond verbunden. Ist der Mond voll,
hast du eine hohe Flut bis zu vier Meter Tidenhub.
Der Tidenhub ist der Abstand, der sich genau um diese vier
Meter wieder verringert. Das heißt, du hast entweder das
Meer bis da rauf und Wascher von Wellen. Oder sechs Stunden später überhaupt kein Meer mehr. Da siehst du dann bis
aufs Riff hinaus. Immer noch mit Tümpeln und Wasserlöchern
dazwischen, aber du könntest direkt hingehen mit dem geeigneten Schuhwerk.
Ein Spaziergang ist aber insofern nicht ratsam, als du die
längste Zeit knietief im Wasser watest und ohne Vorwarnung
in ein Loch stürzt, das wiederum drei Meter tief ist. Und dann
kommt wieder, mit unglaublicher Macht, das Wasser, meistens irgendwann mitten in der Nacht.
Ist der Mond halbvoll, siehst du bei Flut die sogenannte Nipptide, die moderate Form mit fast sanften Wellen. Wenn er voll
ist, kommt auch sie mit voller Macht. Je sichelförmiger der
Mond, desto geringer werden die Unterschiede. Nipptide und
High Tide sehen einander nie und gehören doch zusammen.
No Tide ist immer Ebbe, hat aber mit Nipptide und High Tide
nichts zu tun. Die Unterschiede bei Halbmond sind marginal,
vielleicht einen Meter oder eins zwanzig. Wenn du es genau
wissen willst, besorg dir eine Tide Table, ich hab eine. Die Situation bleibt zwei, drei Tage bestehen, dann geht der Mond
zur Gänze weg und es wird finster. Dann kommt genau dasselbe Wasser wieder, es geht genauso los wie bei Vollmond.
Also alle vierzehn Tage hast du für zwei, drei Tage Vier-Meter-Wellen. Ob jetzt Voll- oder eben auch Neumond ist, siehst
du an der High Tide. Nipptide ist für Leute, die am Wasser
ihr Business machen, die Fischer, die Tauchlehrer und alle
anderen, die beste Zeit. Du kannst immer raus vom Riff undwieder rein. Wenn du dagegen um sieben in der Früh einen
Wasserstand von dreißig Zentimetern hast, musst du entweder warten oder noch früher fahren oder auch gar nicht. Dazu
kommt, dass der Wind sich nicht immer moderat verhält. Du
kannst auch haben, dass der pfeift, dass es nur so hagelt.
Bei Wind werden natürlich auch die Wellen größer. Obacht
also bei Voll- oder Neumond, das bedeutet voller Tidenhub,
also bis zu vier Meter dreißig Unterschied zwischen Flut und
Ebbe innerhalb von sechs Stunden. Zweimal am Tag. Bei abnehmendem beziehungsweise zunehmendem Mond verhält
sich das Meer moderater. Das ist die Conclusio.
Jeder Mensch, der am Meer und mit dem Meer lebt, weiß das.
Alle anderen lernen es mit der Zeit. Am Anfang musst du nur
eines wissen: Unterschätze es nie, das Meer.
Ich habe auch eine Weile gebraucht. In Griechenland waren nie solche massiven Wände aus Wasser wie in Afrika, nie so eine unkontrollierbare Kraft, die dich wegwischt wie ein Flankerl im Universum. Und doch kann ein Augenblick der Unachtsamkeit, ein Lidschlag des Schicksals auf dem Meer dazu führen, dass plötzlich alles anders ist.
Bei mir war das so, am 30. April 1986.
An dem Tag starb ein Mann.
Und ich musste dabei zusehen.
Der Bootsunfall in Griechenland ging durch alle Medien, Ambros und die Katastrophe. Man las es wie andere Katastrophen auch und vergaß sie wieder. Für mich war es meine Katastrophe und ich werde sie nie vergessen. Es war der schwärzeste Tag in meinem Leben.
Und wie das so ist bei Zäsuren im Strudel des Daseins, die von einer Sekunde auf die andere alles ändern: Du hast eine Sekunde davor nicht die geringste Ahnung, dass gleich etwas passieren wird, das dich nachher als Mörder hinstellt.
Wie jeden Frühling waren wir in Griechenland. Wie jeden Frühling standen wir im Hafen von Milina, mitten in diesemherrlichen Gleichmut, der hier die Tage prägt. Das Leben war eine Party mit chilliger Lounge-Musik, auch wenn es regnete, wie an diesem 30. April, es duftete nach Meer und gebratenem Fisch. Wir haben den Tod nicht gerochen.
Mein nagelneues Motorboot, die Moulin Rouge 2, ist erst ein paar Stunden alt. Es liegt festgezurrt an der Anlegestelle, bereit zur Abfahrt. Weiß und schnittig sieht es aus und es ist schnell wie der Wind. Ich habe es eben gekauft und alles für die Jungfernfahrt vorbereitet. Der Yamaha-Motor schnurrt vor sich hin. Mein Schlagzeuger, der Nockerl, fährt mit seinem eigenen Boot vor. Wir sind schon tausendmal den Seeweg zwischen dem Festland und der Anlegestelle in Petraki hin und her gependelt. Ich kenne die Strecke so gut, du könntest mir die
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