Wolfgang Hohlbein -
»Graf Theowulf ist bei ihnen«, flüsterte sie.
Tobias starrte sie an. Er begriff nicht, was sie meinte.
»Was . . . was soll das heißen?«
»Er ist dort«, wiederholte Katrin mit einer Kopfbewegung auf die Toten im See. Eine Zeitlang starrte sie ins Leere, dann blickte sie wieder ihn an und lächelte erneut dieses schmerz-liche, durch und durch bittere Lächeln. »Graf Theowulf ist nicht Graf Theowulf, Tobias«, sagte sie.
Tobias begriff schlagartig, was sie meinte. Aber er weigerte sich, es zu glauben, weil der Gedanke einfach zu absurd war. Zu entsetzlich, um wahr zu sein.
»Was soll das heißen?« flüsterte er.
»Der Mann, den du als Graf Theowulf kennst«, antwortete Katrin halblaut, »ist nicht der Graf. So wenig, wie einer seiner Knechte wirklich sein Knecht ist.« Sie deutete mit einer Handbewegung auf das grün leuchtende Wasser. »Das dort sind der Graf und sein Gesinde, Tobias. Und die, die zu ihnen gehalten haben.« Ihre Stimme war halb erstickt von Tränen, die sie jetzt nicht mehr zurückhalten konnte; Katrin hatte zu viel gefragt und zu viel herausgefunden.
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Tobias starrte sie mit offenem Mund an. Gegen jede Logik versuchte er noch immer, sich einzureden, daß sie sich täuschte. Dabei wußte er im Grunde sehr wohl, daß es die einzig mögliche Erklärung war. Die Beweise hatten auf der Hand gelegen. Der vermeintliche Graf, der sich höchst sonderbar benahm; die entlegene Stadt, die so offenkundig ein entsetzliches Geheimnis verbarg, und die toten Menschen und mißgestalteten Tier die alle irgendwie mit dem Wasser zu tun hatten . . .
Und trotzdem weigerte er sich, all dies zu glauben.
»Wer ist er?« fragte Tobias.
»Theowulf?« Katrin lächelte schmerzlich. »Warum fragst du nicht, wer er war!«
»Also gut«, sagte Tobias, »wer war er?«
»Ein Ungeheuer!« Katrins Gesicht verdunkelte sich vor Haß. »Er war eine Bestie, Tobias. Ein Teufel in Menschenge-stalt. Er hat über diese Stadt und den Rest seines Reiches geherrscht wie der Satan persönlich. Er hat sich genommen, was immer er wollte, während seine Bauern verhungerten.
Er hat Jagden veranstaltet, Tobias, um sich die Zeit zu vertreiben - aber das Wild waren Menschen. Er hat sich jedes Mädchen aus dem Dorf geholt, das ihm gefiel. Und wenn er ihrer überdrüssig geworden war, dann hat er sie an seine Männer gegeben.«
»Und eines Tages haben sie ihn umgebracht«, vermutete Tobias.
Katrin blickte einen Moment aus starren Augen an ihm vorbei ins Leere. »Sie haben es nicht gewagt«, sagte sie, »sich zu wehren. Es sind einfache Leute, Tobias, die ihr Leben lang gelernt haben, zu leiden und zu ertragen. Ein paar haben versucht, zu rebellieren. Aber er hat sie getötet. Einige mögen versucht haben, beim König oder der Kirche um Hilfe zu bitten, aber natürlich wurden sie nicht gehört -
und die, deren Stimmen zu laut wurden, die ließ der Graf am Ende ebenfalls töten. Es gab nur einen einzigen in der Stadt, der den Mut hatte, sich offen gegen ihn zu stellen.«
»Theowulf«, vermutete Tobias, »oder wie immer er heißen mag.«
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Katrin nickte. »Er hieß damals anders. Er war ein sehr junger Mann; fast noch ein Kind. Und doch war er mutiger als die meisten hier. Er stellte sich ganz offen gegen den Grafen, und seine Stimme war laut genug, auch über die Grenzen Buchenfelds hinweg gehört zu werden.«
»Warum ließ Theowulf ihn nicht einfach umbringen wie die anderen?« fragte Tobias.
»Er tat etwas viel Schlimmeres«, sagte Katrin. »Er ließ ihn verhaften und nach Lüneburg bringen, wo er wegen Aufrüh-rerei und Hochverrat vor Gericht gestellt und abgeurteilt wurde. Aber am Tage vor seiner Hinrichtung konnte er entkommen. Und es verging kein halbes Jahr, bis die Männer mit den Knochenmasken das erste Mal in der Nähe der Stadt gesehen wurden.«
»Ihr habt diesen Teufelskult gegründet, um euch an Theowulf zu rächen?« fragte Tobias ungläubig.
Katrin schüttelte beinahe zornig den Kopf. »Es ist kein Teufelskult«, antwortete sie heftig. »Es mag dir schwerfallen, es zu glauben, Tobias, aber sie glauben an Gott wie du und ich, nur auf eine andere Weise. Sie predigen nicht Gottlosig-keit, sondern sagen sich nur von der Kirche los, weil sie ihre Macht ablehnen, so wie sie jede Macht ablehnen, die den Menschen verachtet.«
»Aber das tun wir doch gar nicht«, antwortete Tobias.
Katrins Augen füllten sich mit Trauer und Mitleid. »Du vielleicht nicht, mein Freund«, sagte sie leise. »Es ist gleich, ob es ein
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