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Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall

Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall

Titel: Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Rausch
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drückte sie das Bild fest gegen ihre Brust und schaute zum Fenster hinaus in die Dünen, die sich entlang der Küste zogen. Der Wind beugte das knappe Gras, das sich in den windschattigen Mulden festgesetzt hatte. Mit wehmütigem Blick verfolgte sie die Fischerboote, wie sie in den kleinen Hafen einliefen und am Kai festmachten.
    Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Noch immer wartete sie auf ein Zeichen, eine Nachricht von ihm, dass er es doch noch geschafft hatte, dem Meer zu entkommen. Tag für Tag, doch ihr Sehnen blieb unerfüllt. Schniefend wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, verteilte die Schminke quer über Wangen und Schläfen. Sie stellte das Bild zurück, trocknete die Tränen mit einem Tuch und griff zu Rouge und Lippenstift, die sich auf dem kleinen Schminktisch befanden. Sie wollte hübsch sein, für ihn, der trotz aller Beileidsbekundungen der Hafenpolizei und der Nachbarn bestimmt eines Tages wieder vor ihrer Tür stehen würde. Sie brachte das Rot für Lippen und Wangen auf, kämmte das angegraute Haar, das seit zwei Jahren das frühere Naturblond immer weiter verdrängt hatte, und fasste es schnell zu einem Dutt am Hinterkopf zusammen. Aus dem hübschen Mädchen mit der kecken Stupsnase von damals war nun eine ernste und vom Leid gezeichnete Frau geworden, die ihre ganze Kraft an die Sehnsucht verloren hatte.
    Sie nahm Mantel und Kopftuch zur Hand. Das war das Zeichen für die Hunde, die an ihr hochsprangen und aufgeregt zwischen ihr und der Tür hin- und herliefen. Sie nahm ein Bündel Leinen und machte die Hunde daran fest. Katzen und Vögel hoben aufmerksam die Köpfe.
    »Keine Sorge. Bin bald wieder da«, sprach sie beruhigend, nahm einen Strauß mit Strohblumen aus der Vase und schloss die Tür hinter sich. Sie trat hinaus auf einen schmalen Holzsteg, der an reetgedeckten Häusern vorbei in den nahen Hafen führte. Die Nachbarn grüßten sie freundlich, wenngleich die Freundlichkeit dem Mitleid wich, sobald Julia an ihnen vorbeigegangen war. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten über ihren allmorgendlichen Gang zum Friedhof, den sie nun seit zehn Jahren bei Wind und Wetter unternahm.
    Die Hunde zogen Julia zu einer kleinen protestantischen Kirche, an die ein Friedhof grenzte. Sie beschnüffelten Steine und verdorrte Blumen, während Julia an einem engen Grab die kaum verwelkten Blumen gegen die mitgebrachten austauschte. Sie kniete nieder, führte die Hand auf ihre Lippen und anschließend auf die karge Erde vor ihr. Sie verharrte still und blickte mit feuchten Augen auf ein Bild, das im Grabstein eingelassen war. Es zeigte den blonden Mann aus der Vitrine. In den harten Stein waren der Name Bent Sørensen und das Sterbedatum, der 14. Juni 1987, gemeißelt. Ein Geburtsdatum fehlte.
    Die Hunde zogen an den Leinen und forderten die Fortsetzung des Spazierganges. An einem Kiosk im kleinen Hafen durchstöberte sie einen Zeitungsständer, der hauptsächlich mit Groschenromanen gefüllt war.
    »Gerade eben mit dem Boot eingetroffen«, sagte die Kioskbesitzerin und reichte ihr durch die enge Öffnung ein Taschenbuch, das in blutroten Lettern mit Im Banne des Kalifen betitelt war. Das Bild zeigte einen gebräunten Mann mit Turban, der in seinen Armen eine hingebungsvolle Frau hielt. Julia nahm das Buch in die Hand, schlug es ungeduldig auf und las die ersten Sätze.
    »Wie viel bekommst du?«, fragte sie in Gedanken verloren die Kioskbesitzerin.
    »Achtzig Kronen. Weil du’s bist«, antwortete sie.
    Julia griff in die Manteltasche und legte vier goldfarbene 20- Kronen-Stücke auf eine deutschsprachige Zeitung, die in der Durchreiche auslag. Darauf war das Bild des deutschen Außenministers zu sehen, wie er einem baltischen Regierungsvertreter die Hand schüttelte. Darüber prangte die Schlagzeile:
    »Russlands Kolonien finden neues Zuhause im Westen.« Julia blickte auf das Bild und erkannte den Mann.
    Trotzdem fragte sie ungläubig: »Wer ist das?«
    »Dein deutscher Außenminister«, antwortete die Kioskbesitzerin.
    »Der Taxifahrer ist Außenminister geworden?«
    »Willst du sie haben?«, fragte die Kioskbesitzerin und tippte mit dem Finger auf das Blatt.
    »Bah«, wehrte sie ab, als wäre die Zeitung Teufelszeug, drehte sich um und hielt mit den Hunden an der Leine auf ein kleines Café zu. »Der Taxifahrer ist Außenminister geworden«, wiederholte sie kopfschüttelnd. Sie setzte sich an den einzigen freien Tisch und vertiefte sich in ihr neues Buch. Neben ihr saß ein

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