Wolfsblues
quatschte. Ich mochte es. Er war lebendig und redete meiner Meinung nach auch nicht zu viel.
»Willkommen in meinem bescheidenen Heim in Oshkosh!«, stand auf dem Zettel. Für einen Mann besaß er eine ordentliche Handschrift - elegant und geschwungen. »Zu deiner Rechten befindet sich ein Bad. Es ist nicht groß, aber Du kannst Dich dort frisch machen. Auf dem Sessel liegen Kleider zum Wechseln. Die Tür neben dem Schrank bringt Dich in den oberen Hausflur. Die Treppe nach unten führt direkt zum Wohnbereich, wo Du uns Gesellschaft leisten kannst, sobald Du Dich in der Lage dazu fühlst.«
Mein Gastgeber hatte an alles gedacht. Und so klein, war das Bad beileibe nicht! Eine Badewanne, Duschkabine, Toilette und Waschbecken - alles, was man brauchte, selbst Pflegeutensilien. Ich liebäugelte mit der Wanne. Gott, es war ewig her, seit ich ein Bad genommen hatte! Doch jetzt wollte ich keine Zeit im Bad vertrödeln, so verlockend es auch sein mochte. Ich beließ es bei einer Katzenwäsche und betrauerte vorm Spiegel flüchtig meine fehlenden Haare. Ich würde sie wachsen lassen. Das war so gewiss, wie das Amen in der Kirche!
Zurück im Zimmer, warf ich mich in die schlichten Klamotten, die auf dem Sessel lagen. Mit klopfenden Herzen griff ich an den Türknauf und drehte ihn herum. Die Tür öffnete sich laut knarzend. Was hatte ich erwartet? Wenn er mich einlud, mit zu seinem Rudel zu kommen, würde er mich garantiert nicht einsperren!
Das Treppenhaus war klassisch gehalten. Dunkles Holz, ein bunter Orientläufer und zahlreiche Ölgemälde von Landschaften zierten die holzvertäfelten Wände. Eine gewundene Treppe führte hinab in den Wohnbereich. Ich tat zaghaft einen Schritt vor den anderen, was nicht nur meinem malträtierten, dick bandagierten Knöchel geschuldet war, der bei jedem Schritt ungemein schmerzte. Mein Zögern galt der Ungewissheit, was mich ebendort unten erwarten würde. Ich vernahm Geräusche. Das Klimpern von Gläsern und Geschirr, Stimmen, Lachen … Leben!
»Ah ja, da ist ja unsere Besucherin!« Ein ausgeprägter französischer Dialekt schwang in der Sprechweise des Mannes. Am liebsten hätte ich auf der Stelle kehrtgemacht. Der dunkelhaarige Kerl saß an der imposanten Tafel aus rustikalem Holz, direkt neben einer blutjungen Frau, die eine frappierende Ähnlichkeit mit Abby aufwies.
»Du machst ihr Angst, Leon!« Die Frau wischte ihm gegen den Hinterkopf.
Leons äußere Erscheinung unterschied sich gänzlich von Claudes. Er war hoch aufgeschossen und schlank, gleichwohl muskulös und außergewöhnlich attraktiv. Und allem voran war er eines: kein Werwolf! Der Mann, der einmütig mit den Wölfen am Esstisch saß, war ein Vampir.
»Und warum?«
Er konnte nicht wissen, aus welchen Gründen, er mir Unbehagen bereitete. Ich stand unablässig auf der vorletzten Treppenstufe und rührte mich keinen Zentimeter.
»Weil du Kanadier bist.« Eine besonnene Feststellung der Frau, die Leon dazu brachte, seine Arme aufmüpfig vor der Brust zu verschränken.
»Wundervoll, Enya! Nicht, dass ihr mich ohnehin ständig aufzieht, weil ich ein Blutsauger bin. Nein, jetzt nimmt sogar jemand Anstoß an meiner Nationalität! Ich sollte mich endlich aufraffen und erneut das Weite suchen.«
»Leon, es ist dein Dialekt, der sie verunsichert.« Enya hielt ihn am Arm fest und küsste ihn offen auf die Wange. »Megan, das ist unser Vampir und Dauergast, mein Gefährte Leon. Er ist kein Franzose, sondern Kanadier. Leider kann er sich nicht mehr daran erinnern, wo genau
Aus Kanada er herkommt. Leon weiß nicht einmal seinen Nachnamen. Er leidet an Amnesie. Doch das ist wahrlich kein Thema fürs Frühstück. Er ist ein rundum Lieber, wenn auch ein Blutsauger. Und er ist der Meine! Du brauchst dich nicht vor ihm zu fürchten. Nicht, Leon?«
»Ich bin harmlos«, murmelte der Mann unter sich. Er wirkte ernsthaft gekränkt von meiner Anmaßung.
Meine übersteigerte Reaktion tat mir leid. Leon erschien durch die Bank weg sympathisch. Ich hatte bereits einige Vampire zu Gesicht bekommen und er war auf jeden Fall ein geborener Vampir. Dieser Mann war etwas überaus Besonderes. Wesen wie Leon, entstanden selten aus einer Beziehung zweier ihrer Art. Sie waren von Geburt an Vampire und wurden nicht gewandelt durch einen Bluttausch. Was er war, erkannte man an der ungesunden Hautfarbe, die nicht den Hauch einer Tönung besaß, auch keinerlei Leberflecke oder sonstige Pigmentierung. Leon erschien kränklich blass, fast wie
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