Wolfsblues
eine Leiche. Doch er war lebendig, konnte ich sein Herz schlagen hören in einem regelmäßigen, entspannten Takt. Seine Augen hatten dafür umso mehr Farbe abbekommen. Strahlendes royalblau und die Haare … ein solch dunkles Schwarz gab es nur bei geborenen Vampiren.
Ich durfte mein Leben nicht von Angst bestimmen lassen! Das war absurd!
»Je suis désolé«, sagte ich und wiederholte es noch einmal in voller Lautstärke. Ich straffte mich und bewegte mich auf den Tisch zu, um gegenüber der beiden Platz zu nehmen.
»Halb so wild!« Leon winkte leutselig ab. »Ich bin einiges gewohnt. Das Leben hat mich aber und abermals in den Hintern getreten.« Für einen Moment wirkte er traumversunken. Es war fürwahr merkwürdig. Nicht, als dächte er nach, sondern wahrhaftig, als wäre sein Geist vollends abgeschaltet. Enya schmiegte sich an ihn.
»Er hat das immer, wenn dunkle Erinnerungen an die Vergangenheit aufkommen. Leon kann sich nur an wenig erinnern. Doch das, was er sich ins Gedächtnis rufen kann, sind keineswegs positive Rückblicke. Sie quälen ihn. Es ist ein langatmiges Thema, das meinem Gefährten im höchsten Maße unangenehm ist. Sein Geist macht in derlei Situationen dicht, um ihn zu schützen«, erklärte sie bedächtig. »Leon, mein Schatz?« Ihr Kuss auf seine Schläfe holte ihn aus diesem katatonischen Zustand zurück.
»Fernerhin lebe ich mit Wölfen zusammen«, sprach er geradewegs weiter, als wäre nichts vorgefallen.
Leon war erheblich verkorkst. Er war aller Wahrscheinlichkeit sogar noch schlechter dran als ich. Allenfalls ein Grund mehr, ihn zu mögen. Tante Gertrud, die Lykanerin aus Deutschland, hatte stets zu mir gesagt: »Egal wie schlimm du dran bist, ruf dir immer in Erinnerung, dass es anderen noch schlechter geht als dir, und versuch den Hintern hochzukriegen.«
Sie war eine Konstante in meinem Leben. Noch eine, die ich fürchterlich vermisste. Ich berührte das kleine goldene Kreuz um meinen Hals, welches ich neben dem Medaillon trug. Ein Geschenk von ihr, war sie ausgesprochen religiös. Die Erkenntnis ergriff mich schlagartig. Ich war frei und konnte tun und lassen, was ich wollte. Es stand mir offen, nach Gertrud zu suchen und auch nach dem Rest meines alten Rudels. Zufrieden lehnte ich mich zurück. »Und was bewegt einen Vampir dazu, mit einem Rudel zusammenzuleben?
»Na was wohl? Die Liebe!«
Ich wand mich zur Treppe und sah Chris die letzten Stufen voll Elan hinunterspringen. Doch er kam mitnichten elegant auf beiden Beinen auf. Sein linkes Bein gab unter seinem Gewicht nach und knickte zur Seite weg. Es tat bereits beim Zusehen weh. Dessen ungeachtet rappelte er sich ohne Anstrengung auf. Er hinkte hinter den Tresen der offenen Wohnküche und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, als ob nichts geschehen wäre. Chris mochte zwar lächeln, dennoch gelang es ihm mehr schlecht als recht, die Schmerzen zu überspielen.
»Unser Blutsauger ist in Enya verschossen. Enya ist Abbys Tochter, wie du ohne Frage längst bemerkt hast. Sie leben an diesem Ort mit mir. Der Rest des Rudels hat eigene Häuser, aber keiner wohnt mehr als 15 Minuten zu Fuß weit entfernt. Ich bin kein Fan von dem Aufeinandergesitze, wie es in anderen Rudeln üblich ist. Kaffee?« Chris strahlte mich an und holte zwei Tassen aus dem Oberschrank.
»Sicher, liebend gern«, antwortete ich. Es war mir nicht vertraut, bedient zu werden. Chris brachte mir die Tasse an den Tisch. Er hinkte nach wie vor stark.
»Zucker und Milch stehen auf dem Tisch. Wenn du was essen magst, ich bin bedauerlicherweise eine Niete im Kochen. Doch wir haben frische Schrippen, Käse und Wurst. Enya hat Eier gekocht. Greif nur zu!« Er nahm ein Brötchen, hielt dann jedoch inne in seiner Bewegung und sah mich stirnrunzelnd an. »Hat es einen Grund, warum du mich anstarrst?«, giggelte er peinlich berührt.
»Ja, du Vollpfosten!« Abby klapste ihm von hinten gegen den Schädel. »Es ist ausgesprochen zuvorkommend, dass du der Auffassung bist, die Kraft zurückgeben zu müssen, die du dir vom Rudel ausleihst. Wie ich dir Betonschädel gewiss bereits zwanzigmal erklärt habe, ist es allerdings nicht vonnöten.« Die Frau war aufgebracht und schnaubte leise. »Sie starrt dich an, weil du rumhinkst. Mister Perfect hat sich Energie vom Rudel genommen, was völlig legitim ist. Er nimmt lediglich sehr dezent, um seinen Makel zu kaschieren. Chris wollte vor den anderen Alphawölfen, keine Schwäche zeigen. Du weißt besser als jeder
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