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Wolfsbrut

Wolfsbrut

Titel: Wolfsbrut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Whitley Strieber
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alternden Augen. Er war da draußen gewesen und hatte sie bewacht! Dieser großartige, süße, romantische Dummkopf. In diesem Augenblick war ihr, als sähe sie einen geheimen, verborgenen Wilson, den sie zum erstenmal entdeckte. Sie hätte ihn küssen können.

7
    Carl Ferguson war entsetzt und aufgeregt zugleich über das, was er las. Er schien davonzuschweben, an einen ruhigen und sicheren Ort. Aber er kam zurück. Die prosaische Wirklichkeit des Lesesaals der öffentlichen Bibliothek von New York nahm wieder um ihn herum Gestalt an. Ihm gegenüber ließ ein fast schmerzhaft schönes Schulmädchen ihren Kaugummi platzen. Ein alter Mann neben ihm atmete tief und langsam; er blätterte ein ebensoaltes Buch durch. Überall ringsum herrschte gedämpftes Treiben, das Rascheln von Papier und Kratzen von Füllern, Husten, Flüstern, Rufe der Angestellten, die im vorderen Raum Nummern aufriefen.
    Weil man nicht an die Regale konnte und weil man diesen Raum weder mit einem Buch betreten noch verlassen durfte, war die Sammlung nicht gestohlen worden und gehörte immer noch zu den besten der Welt. Und wegen des Buches, das er schließlich in dieser hervorragenden Sammlung gefunden hatte, empfand Carl Ferguson nun diese schreckliche Angst. Was er las, was er vor sich sah, war so schrecklich und phantastisch, daß man es kaum glauben konnte. Und doch standen die Worte da.
    »In der Normandie«, las Ferguson zum dritten Mal, »berichten Überlieferungen von gewissen phantastischen Wesen, die Lupins oder Lubins genannt werden. Sie schwatzen nachts miteinander und unterhalten sich in einer unbekannten Sprache. Sie sitzen an den Mauern von Landfriedhöfen und heulen schrill den Mond an. Sie sind scheu und fürchten die Menschen und fliehen schon bei einem Schritt oder einer fernen Stimme ängstlich. In manchen Gegenden aber sind sie kämpferisch und gehören der Werwolf-Rasse an; man sagt ihnen nach, daß sie mit den Pfoten Gräber öffnen und an den Gebeinen der unglücklichen Toten nagen.«
    Eine uralte Geschichte, die Montague Summers in seinem Klassiker Der Werwolf nacherzählt hatte. Summers hatte angenommen, daß die Geschichten von Werwölfen Legenden waren, Geschichten, die erzählt wurden, um die Ängstlichen zu erschrecken. Aber Summers hatte sich auf unglaubliche Weise vollkommen geirrt. Die alten Legenden und Überlieferungen stimmten. Nur ein kleines Element war falsch: Früher war man davon ausgegangen, daß ihre Intelligenz und List darauf zurückzuführen war, daß es sich um Menschen handelte, die die Gestalt von Tieren angenommen hatten. Aber das war nicht so, überhaupt nicht. Sie waren vielmehr eine völlig eigenständige Rasse vernunftbegabter Lebewesen. Sie teilten sich den Planeten Erde all die langen Jahrtausende mit uns, und wir wußten es nicht. Was für großartige Wesen mußten sie sein - eine buchstäblich außerirdische Intelligenz direkt vor der Haustür. Es war eine furchteinflößende Entdeckung, aber für Ferguson auch eine voller Wunder.
    Hier waren Legenden, Geschichten, Märchen, die Jahrtausende zurückreichten und immer wieder die Mythologie des Werwolfs wiederholten. Und dann plötzlich, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts - Schweigen.
    Die Legenden waren ausgestorben.
    Die Geschichten wurden nicht mehr erzählt.
    Aber warum? Für Ferguson war die Antwort einfach: Die Werwölfe, die jahrhundertelang von der Angst und Grausamkeit der Menschen gequält worden waren, hatten einen Weg gefunden, sich vor ihnen zu verstecken. Jetzt war ihr Untertauchen perfekt. Sie lebten unter uns, ernährten sich von unserem Fleisch und waren allen unbekannt, außer denen, die ihre Geschichte nicht mehr weitererzählen konnten. Sie waren eine Rasse lebender Gespenster, unsichtbar, aber durchaus Teil dieser Welt. Sie kannten die menschliche Gesellschaft so gut, daß sie nur die Einsamen, die Schwachen, die Isolierten jagten. Und gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts war die Bevölkerungszahl weltweit explodiert, Armut und Elend hatten sich ausgebreitet. Gewaltige Menschenmassen wurden von der Gesellschaft, in der sie lebten, aufgegeben und mißachtet. Und sie waren leichte Beute für diese Werwölfe, die durch die Schatten strichen und Bettler, Wanderer wie Namen- und Heimatlose verschlangen.
    Die Zahl der Werwölfe war zweifellos parallel zu der der Menschen gewachsen. Ferguson stellte sich Hunderte vor, Tausende, die die großen Städte der Erde nach ihrer menschlichen Beute absuchten, kaum je

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