Wolfsbrut
der Mauer auf. Einen Moment sah der Alte Vater diesem Wesen genau in die Augen; in die Augen von Menschen zu sehen, war fast so, als würde man einem uralten Feind in die Augen sehen - oder auch einer geliebten Schwester.
Er sollte nicht hier sein - lauf! Und er lief, glitt binnen eines Augenblicks ins Gebüsch zurück. Dann schnupperte er in der Luft, machte die Meute ausfindig und folgte ihr. In seinem Verstand kreiste das schreckliche Wissen, daß ein weiterer Eindringling gekommen war, und er war erleichtert und schuldbewußt zugleich, daß er den Eindringling nicht getötet hatte. Dieser Konflikt machte ihn wütend, und die Wut nährte seine Verzweiflung. Wilde, verrückte Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Er wollte, daß die Gefahr vorüber war. Die Meute mußte gedeihen. Sie mußten diesen Kampf gegen die Menschen bald gewinnen. Das Auftauchen dieses neuen Faktors - der Fremde, der nach dem Nest der Meute suchte - war Beweis dafür, daß sich das verbotene Wissen ausbreitete. Es mußte an der Wurzel ausgerottet werden, und zwar bald. »Heute nacht«, dachte er beim Laufen, »oder es wird zu spät sein.«
11
Bei Einbruch der Nacht kam Wind auf. Er wehrte von Norden, ungestüm und bitter kalt, und verwandelte die Schmelze des Nachmittags in einen schneidenden Mantel aus Eis. Die wärmere Luft über der Stadt verwandelte sich in Wolken und wehte nach Süden; am Himmel standen einige wenige Sterne, die dem elektrischen Strom unten trotzten, und eine Mondsichel, die über den Wolkenkratzern aufging. Der bitterkalte Wind heulte durch die Straßen von Manhattan und trug eine uralte Wildheit mit sich, die selten bis in die Innenstadt vordrang; es war, als wäre die Seele des finsteren Nordens aus ihrer Heimat gekommen und in der Stadt freigelassen worden.
Busse fuhren knirschend über vereiste Fahrbahnen, die Schneeketten klirrten, Motoren heulten auf. Aus dampfenden Schächten konnte man das Dröhnen der U-Bahnen hören. Hier und da fuhr ein Taxi auf der Suche nach den wenigen Menschen, die in der Kälte unterwegs waren. Türwächter standen dicht bei den Eingängen von Luxuswohnhäusern oder standen in den Hallen und sahen in den Wind hinaus. Im Inneren dieser Gebäude zischten normalerweise schläfrige Heizungen und rumorten, während überlastete Heizsysteme sich bemühten, Behaglichkeit in der frostigen Kälte zu erzeugen.
Das letzte Licht war vom Himmel verschwunden, als Becky die Augen aufschlug. Hinter der Schlafzimmertür hörte sie das Dröhnen der Abendnachrichten. Dick, Wilson und Ferguson sahen sie sich an. Sie rollte sich auf den Rücken und sah durch das Fenster zum Himmel. Sie konnte aus ihrem Blickwinkel keine Sterne sehen, nur die Spitze der Mondsichel, die durch die Dunkelheit schnitt und vom Fenster verdeckt wurde. Sie seufzte und ging ins Bad. Halb acht Uhr abends. Sie hatte zwei Stunden geschlafen. Zusammenhanglose Bilder aus ihren Träumen schienen aus dem Nichts auf sie einzustürmen; sie spritzte sich Wasser ins Gesicht und bürstete ihr Haar. Sie schüttelte den Kopf. Waren es Alpträume gewesen oder nur Träume? Sie konnte sich nicht erinnern. Ihr Gesicht im Spiegel sah wächsern aus; sie holte den Lippenstift heraus und trug ein wenig davon auf. Sie wusch sich die Hände. Dann ging sie ins Schlafzimmer zurück, zog die Angora-Unterwäsche an, darüber Jeans, ein Flanellhemd und einen dicken Pullover. Der Wind heulte um die Ecken des Hauses und drückte gegen die Fenster, die sich wölbten und ächzten. Große Eisblumen tauchten auf dem Glas auf, die beim Wachsen sanft glitzerten.
Becky ging ins Wohnzimmer. »Willkommen in der Wirklichkeit«, sagte ihr Mann. »Du hast den Knüller verpaßt.«
»Knüller?«
»Der Commissioner hat bekanntgegeben, daß Evans von einer Bande Verrückter ermordet wurde - ein Kult-Mord.«
Wilson winkte wortlos mit einer Ausgabe der News. »Werwolf-Killer im Park - Zwei Morde.«
Becky schüttelte den Kopf und verzichtete auf einen Kommentar. Das war alles so lächerlich, so hirnlos. Der Commissioner begriff einfach die Wahrheit nicht; keiner begriff sie. Sie fand ihre Zigaretten und zündete sich eine an, dann ließ sie sich zwischen Wilson und ihrem Mann aufs Sofa fallen. Ferguson, der im Fernsehsessel saß, sagte kein Wort. Sein Gesicht war kantig, die Haut schien über den Knochen zu spannen, was ihm ein leichenhaftes Aussehen verlieh. Sein Mund war verkniffen, die Augen sahen blicklos in Richtung Fernseher. Seine einzigen Bewegungen bestanden darin,
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