Wolfsfalle: Tannenbergs fünfter Fall
mich.«
Wilhelm Bornschein strich sich mit den Fingern seiner geöffneten linken Hand über die mit einem bläulichen Adergeflecht verzierte Hakennase. Dann wanderte seine Hand über die eingefallenen Wangen hinunter zu seinem dürren Hals, der von einem knorpeligen Adamsapfel dominiert wurde.
Währenddessen schweiften Tannenbergs Augen ein wenig durch das deprimierend triste Zimmer. Er musterte die kahlen Wände und das schmale Bett davor, den abgetretenen Teppichboden zu seinen Füßen, den Fernseher, der das einzig luxuriöse in diesem eher an einen Abstellraum als an einen Lebensmittelpunkt erinnernden Raum darstellte.
In einer Gefängniszelle sieht es auch nicht schlimmer aus, dachte Tannenberg. Da hängen wenigstens noch ein paar bunte Bilder an der Wand.
Mit einem Ruck erhob er sich wortlos von seinem Stuhl. Bornschein zuckte erschrocken zusammen. Tann enberg ging zum Fenster, zog den vergilbten Vorhang zur Seite. Draußen hatte es zu dämmern begonnen. In dem kaum mehr als einen Steinwurf entfernten Studentenwohnheimen waren bereits einige Räume hellerleuchtet, ein weiteres Licht flammte gerade auf.
Unwillkürlich blickte er in das vorhanglose Appartement hinein, das just in diesem Augenblick von einer Studentin betreten wurde. Ein stichartiger Schmerz fuhr ihm in die Magengegend. Plötzlich war alles wieder da: Die Erinnerung an Leonies SMS, an seine rasende Fahrt hierher ins rote Wohnheim, an seinen mysteriösen Blackout, an Kollege Krummenacker, der an ihm rüttelte, ihn mit drängenden Fragen bombardierte – und an Leonie, wie sie unten am Eingang in ihrem eigenen Blut lag.
Tannenberg wandte sich wieder zu dem wie ein Häuflein Elend am Tisch kauernden Alten um.
»Herr Bornschein, Sie werden vielleicht verstehen, dass ich nicht sehr viel Zeit habe. Sie haben bestimmt die Berichte über mich in der Zeitung gelesen, oder?«
Ein stummes Kopfnicken gab die Antwort.
»Dann wissen Sie ja auch, dass mir das Wasser bis zum Halse steht. Ich werde zweier Morde bezichtigt, die ich nicht begangen habe. Deshalb meine dringende Bitte an Sie: Erzählen Sie mir jetzt endlich, ob Sie in dieser Nacht hier von Ihrem Fenster aus irgendetwas gesehen haben, das mich entlasten könnte.«
Tannenberg drehte abermals seinen Körper um 90 Grad, warf einen ausgestreckten Arm hinüber zum roten Wohnheim. »Dort drüben hat irgendein skrupelloser Verbrecher Mittwochnacht eine arme Studentin über den Balkon geworfen. Haben Sie davon etwas mitbekommen?«
Wilhelm Bornschein schüttelte den Kopf. »Nein«, kam es gepresst aus dem zuckenden Mund des alten Mannes.
»Und einer Ihrer Freunde?«
»Weiß ich nicht.«
»Jetzt reichts mir aber, Herr Bornschein!«, schimpfte Tannenberg mit sich erhebender Stimme los.
»Nicht so laut, Wolf«, mahnte Kommissar Fouquet.
Nun sah sich auch Jacob zum Eingreifen genötigt: »Mensch, Willi, die ganze Stadt weiß doch, dass ihr hier die jungen Frauen beobachtet. Da ist ja auch nix dabei. Aber jetzt erzähl doch endlich!«
Der Alte schien einen schwierigen inneren Kampf auszufechten. Er leckte sich nervös über die dünnen, blutleeren Lippen, schwieg aber weiter.
Nun wechselte Tannenberg die Befragungsstrategie. Er baute sich direkt vor Wilhelm Bornschein auf, stemmte die Hände in die Hüften.
»Mein Kollege hat Ihnen zwar gesagt, dass uns diese Spannerei, die ihr altersgeilen Säcke hier abends abzieht, nicht interessiert. Im Moment ist das auch noch so. Das kann sich aber schlagartig ändern. Kapieren Sie das?«
Keine sichtbare Reaktion.
»Was uns aber interessiert, und wo wir euch gewaltig Feuer unter den Schwanz machen werden, ist die Tatsache, dass Sie und Ihre feinen Freunde Beweismaterial in einem Mordfall unterschlagen.«
Tannenberg griff Bornschein an der dürren Schulter, drückte ihn fest nach hinten.
»Los, schauen Sie mich an!«, blaffte er ihn an.
Wilhelm Bornschein gehorchte, blickte Tannenberg mit aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen an.
»Was ist nun? Wissen Sie irgendwas?«
Sein Gegenüber antwortete lediglich mit einem stummen Kopfschütteln.
Mit einem Male wich die Spannung aus Tannenbergs Körper. Wie ein nasser Mehlsack sank er schlaff auf den anderen Stuhl. Mit einem herzerweichenden Gesichtsausdruck faltete er die Hände, streckte sie flehentlich in Richtung des alten Mannes, bewegte sie dabei auf und ab.
»Mensch, Herr Bornschein, sagen Sie doch endlich, was Sache ist«, bettelte er. »Es geht um Leben und Tod! Und Sie sind doch meine letzte
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