Wolfsfeder
»Dora Klages war ein
junges Mädchen aus Hameln. Sie war von einer gewissen Dorothee Buntrock und
ihrem Helfershelfer Fritz Erbe mit dem Versprechen nach Eschede gelockt worden,
für sie als Reisebegleiterin arbeiten zu können. Mitten im Wald, in der Nähe
des Loher Weges, sind sie dann am helllichten Tage über das hilflose Mädchen
hergefallen, haben es grausam umgebracht und die Tote im Waldboden
verscharrt – alles nur wegen der Kleider, die sie am Leibe trug, und ein
paar Pfennig Kleingeld. Die Leiche wurde erst zwei Jahre später gefunden; ein
kleiner Gedenkstein an der Stelle im Wald erinnert heute noch an die Gräueltat.
Das Mörderpärchen wurde gefasst und hingerichtet, auch wegen eines weiteren
Raubmordes. Wenn Sie noch mehr wissen wollen – Aussagen von Zeitzeugen,
Zeitungsartikel von damals et cetera –, schauen Sie am besten mal auf der
Homepage von Eschede nach.«
»Ist die Geschichte der Dora Klages auch
außerhalb von Eschede bekannt?«, fragte Maike.
»Keine Ahnung.« Finn überlegte. »In den
umliegenden Dörfern wohl schon, aber weiter weg?« Er zuckte mit den Achseln.
»Na dann …« Mendelski schaltete die
Scheinwerfer ein, legte den ersten Gang ein und fuhr los. »Schönen Dank für
Ihre ausführlichen Auskünfte«, sagte er freundlich. »Und seien Sie bitte so
nett und behalten das mit den Drohbriefen erst mal für sich.«
»Klar doch, wegen der Presse und so.«
»Ja, aber nicht nur der Medien wegen, die
so was natürlich sofort ausschlachten würden. Nein, mir geht es auch darum, den
Verfasser der Briefe erst einmal in dem Glauben zu lassen, wir wüssten nichts
über die Zettel. Das gibt uns einen gewissen Vorsprung.«
»Verstehe.«
»Wo sollen wir Sie absetzen?«
»Ich wohne jenseits der 191, in der Nähe
des Bahnhofs.«
»Hier entlang?«
»Ja, genau.«
Sie fuhren die Albert-König-Straße zur
B191 hinauf.
»Sie stehen uns bitte noch für weitere
Fragen zur Verfügung.« Mendelski überquerte die Bundesstraße, um schräg
gegenüber in die Bahnhofstraße einzubiegen. »Schauen Sie, unsere Arbeit hat
gerade erst begonnen, wir müssen noch jede Menge Fragen klären.«
»Wenn’s denn sein muss.« Finn Braukmann
wirkte plötzlich abweisend und in sich gekehrt. Er sprach wie in Trance, als er
bat: »Aber dann müssen Sie mir auch einen Gefallen tun. Hier können Sie
übrigens halten.«
»Welchen Gefallen denn?« Mendelski nahm
den Fuß vom Gas und fuhr rechts an die Bordsteinkante. Neugierig musterte er
seinen Beifahrer.
»Bitte …«, sagte dieser mit einem
leisen Flehen in der Stimme. »Bitte verschonen Sie mich mit Einzelheiten. Wie
Yadira ums Leben kam … ob sie vergewaltigt wurde oder so. Ich will’s nicht
wissen. Dazu habe ich sie zu sehr gemocht.« Ohne eine Antwort abzuwarten,
öffnete Finn die Autotür und sprang in die Dunkelheit hinaus. Der Regendunst
verschluckte seine Gestalt in Windeseile.
Die Beifahrertür hatte er sperrangelweit
offen gelassen.
Als sie das Ortsschild von
Endeholz passierten, brachte NDR -Info
gerade die Einundzwanzig-Uhr-Nachrichten. Maike Schnur drückte auf die
Volume-Taste des Autoradios, denn sie hatte mit einem Ohr mitgekriegt, dass der
erste Beitrag irgendetwas mit dem Landkreis Celle und Eschede zu tun hatte.
»… am heutigen Nachmittag im Wald
bei Eschede gefunden worden. Bei der Toten handelt es sich um eine
achtzehnjährige Frau aus der Dominikanischen Republik, die seit einem
Dreivierteljahr in Deutschland lebte. Ob ein Gewaltverbrechen vorliegt oder ob
es sich um einen Unfall handelt, kann die Polizei zum jetzigen Zeitpunkt noch
nicht sagen. – Kandahar …«
»Na, das klingt ja einigermaßen
moderat«, sagte Maike, nachdem sie das Radio wieder leiser gestellt hatte.
»Das waren ja auch die
Öffentlich-Rechtlichen«, knurrte Mendelski. »Schalt bloß nicht auf die
Privaten. – Carajo! Wenn man vom Teufel spricht …«
Als sie beim Gasthaus Cohrs um die Ecke
bogen, sahen sie die Bescherung. Im grellen Licht einiger Kamerascheinwerfer
und dem Blitzlichtgewitter etlicher Fotografen standen Jo Kleinschmidt und
Ellen Vogelsang vor der VW Caravelle
und versuchten, die Schar von Medienleuten in Schach zu halten.
»Schnell, hier auf den Hof.« Maike Schnur
wies nach rechts. »Da gibt es einen Seiteneingang.«
Mendelski tat, wie ihm befohlen. »Hast du
Heiko gesehen?«, fragte er, während er in einer dunklen Ecke einparkte. »Oder
waren das nur Ellen und Jo?«
»Keine Ahnung, vielleicht sitzt er schon
im
Weitere Kostenlose Bücher