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Wolfsfeder

Wolfsfeder

Titel: Wolfsfeder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Oehlschläger
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kam.
    Trotz des Gegenlichts erkannte Mendelski
seine Frau Carmen, die – wie stets leicht fröstelnd – die Arme
wärmend um ihren Oberkörper geschlungen hatte. Auch die Silhouette seiner
Tochter Ana war ihm wohlvertraut, was sicher mit deren langen Haaren –
ihrer Löwenmähne, wie er immer sagte – und der hoch aufgeschossenen,
schmalen Mannequinfigur zusammenhing. Nur die dritte Person war ihm fremd. Es
handelte sich zweifellos um ein männliches Wesen, das um mindestens einen
halben Kopf größer war als Ana. Es musste ihr neuer Freund sein, den sie ihm und
Carmen heute hatte vorstellen wollen.
    Das schlechte Gewissen plagte ihn. Ohne
sich weiter um seine Jagdutensilien zu kümmern, stieg er rasch aus dem Auto und
ging zum Haus.
    »Oh Paps!«, empfing ihn Ana mit
vorwurfsvollem Ton schon von Weitem. »Jetzt, wo wir gehen müssen, da kommst
du.«
    »Tut mir wirklich leid, aber es ging nicht
anders«, erwiderte er, trat zu seiner Frau und gab ihr einen liebevollen
Begrüßungskuss. »Ihr wisst doch, Dienst ist Dienst.« Dann wandte er sich an
seine Tochter. »Willst du mich nicht wenigstens vorstellen?«
    »So zwischen Tür und Angel?«, schmollte
sie. »Na toll.«
    Indem er dem jungen Mann freundlich
zunickte und ihm die Hand reichte, nahm Mendelski die Sache selbst in die Hand.
»Ich bin Robert«, sagte er.
    »Und ich der Ajub.«
    Er hat ein sympathisches und offenes
Lächeln, dachte Mendelski. Wirkt so vernünftig und erfrischend normal. Ganz
anders als die Leute, mit denen er von Berufs wegen häufig zu tun hatte.
Spontan schlug er vor: »Zehn Minuten habt ihr doch noch, ihr beiden? Los, kommt,
tut mir den Gefallen.«
    »Och nee!« Ana trat unruhig von einem Bein
aufs andere. Ajub, ganz Gentleman, nickte diplomatisch. »Aber wirklich nur zehn
Minuten«, sagte Ana darum. »Ich muss morgen früh raus.«
    »Super. Nett von euch. Geht schon mal vor.
Ich muss eben noch meine Jagdsachen aus dem Auto holen.«

VIER
    Die Dämmerung legte sich auf die
Straßen von Santiago de los Caballeros, als sie die Brücke über den Rio Yaque
del Norte passierten. Der Fluss führte reichlich Wasser und schleppte etliches
Treibgut mit sich, vor allem Plastikflaschen, Totholz und Blattwerk tropischer
Baum- und Straucharten. Seine Farbe war schlammiggelb, was auf heftige
Regenfälle in der Cordillera Central in den letzten Tagen hindeutete.
    Der abendliche Verkehr war für einen
Werktag in der Metropole erstaunlich ruhig. So gelangten sie rasch durch die
Stadt, die der Fahrer des Toyota wie seine eigene Westentasche kannte. Am
Busbahnhof von Caribe Tours endete ihre gemeinsame Fahrt.
    »Was schleppst du denn alles mit?«, fragte
er seine Schwester, als er den Hartschalenkoffer aus dem Kofferraum hievte.
»Hast du da etwa Kokosnüsse drin, damit du den Deutschen fleißig Piña colada
machen kannst?«
    »Was denkst du denn!« Zum ersten Mal an
diesem Tag zeigte ihr Gesicht einen Anflug von einem Lächeln. Mit vor Schalk
funkelnden Augen fuhr sie fort: »Kokosnüsse, jede Menge Flaschen mit
dominikanischem Rum und Dosen mit dominikanischem Ananassaft.« Darauf zeigte
sie ihre blendend weißen Zähne zu einem kurzen Lachen.
    »So gefällst du mir schon viel besser«,
sagte er, nachdem er den Koffer auf dem von der intensiven Sonneneinstrahlung
immer noch warmen Asphalt abgesetzt hatte. Dios mio, dachte er, was für eine schöne Frau sie doch ist, wenn sie
lacht. »Komm, Schwesterherz, lass dich zum Abschied noch mal in den Arm
nehmen.«
    Die Umarmung währte einige Augenblicke und
war so innig und zärtlich, dass ein Beobachter mutmaßen konnte, es würde sich
bei den beiden nicht um ein Geschwister-, sondern um ein Liebespaar handeln.
Als der Lautsprecher die Abfahrt des Busses nach Santo Domingo ankündigte,
ließen sie voneinander ab, wischten sich die Tränen aus den Augen und gingen
zur Haltestelle hinüber.
    * * *
    Der kalte Ostwind trieb am
Freitagmorgen allerlei herbstlich buntes Laub von der sonnenüberfluteten
Sägemühlenstraße über die Hannoversche Straße hinweg in die Jägerstraße, an
deren Beginn der graue Betonklotz der Celler Polizei lag. Die mannigfaltigen
Blätter musste er im nahen Französischen Garten aufgegabelt haben, wo es eine
Vielzahl von seltenen Parkbäumen gab. In der Nacht zuvor war der erste Frost
über sie hergegangen.
    Für neun Uhr war eine Besprechung über den
neuen Fall angesetzt. Fünf Minuten vor der Zeit waren bereits alle im
Konferenzzimmer des Fachkommissariats I, das im sechsten

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