Wolfsfeder
Größerem umsah, fiel sein Blick auf den
großformatigen Rien-Poortvliets-Jagdkalender an der Wand. Er erhob sich, nahm
den Kalender kurzerhand vom Haken und legte ihn mit der Rückseite nach oben auf
den Schreibtisch. Jetzt hatte er genügend Platz.
Mit einem schwarzen Filzstift begann er
von Neuem. Schon bald fügte er den Zeichnungen Worte hinzu. Zwischen die
skizzierten Bäume am oberen Rand des Blattes schrieb er in Großbuchstaben zwei
Begriffe: YADIRA MARTINÉZ und STRECKENPLATZ . Unter dem Namen Yadira
Martinéz listete er auf: Wasserleiche, Chlor,
Hämatome, Amulett. Unter Streckenplatz schrieb
er Wolfsangel, Haare/Fussel, Schwedenfeuer, Brüche und schließlich die Namen Jagau,
von Bartling, Pagel, Wiegand.
Rechts oberhalb der Skizze, die ein
Gebäude darstellen sollte, schrieb er JAGDHÜTTE und darunter die Worte Brüche, Wolfsangel/Pagel,
Wiegand.
Den Namen Eschede setzte er in den großen
Kreis im Zentrum des Blattes, an dessen unterem Rand die Umrisse eines großen
Hauses zu erkennen waren. Die Überschrift POOL folgte mit den Unterbegriffen Chlor, Amulett,
Blockhaus, Wolfsfeder und den Namen Kai, Finn, Kreinbrink senior, Wiegand, Hogreve.
In den freien Raum unterhalb der
Zeichnungen notierte er den Begriff Drohbriefe .
Dann lehnte sich Mendelski zurück und
betrachtete lange sein Werk. Die Kopfschmerzen begannen zu weichen, die
Tabletten schlugen an. Ein wohliges Gefühl machte sich langsam in ihm breit.
Am meisten interessierten ihn die Namen,
die er aufgeschrieben hatte. Dreimal hatte er den Namen des Gärtners notiert,
so oft wie keinen anderen. Wiegand hatte mit dem Pool zu tun, er war im Wald
gesehen worden und jetzt auf mysteriöse Weise untergetaucht. Er kreiste den
Namen des Gärtners dreimal ein.
Dann legte er den Stift zur Seite und
gähnte. Trotz des Koffeins in den Tabletten fühlte er sich plötzlich schläfrig.
Für die weitere geistige Ermittlungsarbeit
begab sich Mendelski ins Wohnzimmer. Noch immer im Schlafanzug, fröstelte es
ihn – also legte er sich aufs Sofa und zog die Wolldecke bis zum Kinn
hoch.
Doch die anspruchsvolle
Ermittlungstätigkeit im Liegen überforderte ihn. Die Augen fielen ihm zu, seine
Gedanken schweiften weiter und weiter ab.
Drei Minuten später war er eingeschlafen.
* * *
Als der Hahn vom Nachbarhof mit
einem krächzenden Krähen die ersten Sonnenstrahlen ankündigte, war sie schon
zwei Stunden auf den Beinen.
Um kurz vor sechs war Irene Hogreve
aufgestanden – nach einer unruhigen, endlos erscheinenden Nacht. Wie
gerädert war sie ins Badezimmer geschlurft. Dort hatte sie eine geschlagene
Stunde damit zugebracht, die Blessuren im Gesicht und an den Händen zu
behandeln, damit sie sich einigermaßen unter die Leute trauen konnte. Um die
Kratzer und Hautabschürfungen an Armen und Beinen zu verbergen, hatte sie eine
lange Hose und eine Bluse mit langen Ärmeln angezogen.
Sie trat ans Fenster. Der klare blaue
Herbsthimmel versprach einen schönen Tag. Ein kurzer Blick auf die Armbanduhr
verriet, dass sie bereits zwanzig Minuten zu spät dran war. Sonnabends und auch
am Sonntag stand sie gewöhnlich um sieben Uhr dreißig in der Küche, um sich
ihrer Haushaltstätigkeit zu widmen.
Sie atmete tief durch, dann fasste sie
sich ein Herz und verließ ihre Wohnung.
Als sie die Küche betrat, stockte ihr der
Atem. Kai, der normalerweise am Wochenende bis in die Puppen schlief, saß am Küchentisch,
über die »Cellesche Zeitung« gebeugt, einen dampfenden Kaffeepott in der Hand.
Der rutschte ihm fast aus den Fingern, als sie eintrat. Wie eine Fata Morgana
starrte er sie an.
»Frau Hogreve«, rief er verwundert. »Wo
kommen Sie denn her?«
»Von oben natürlich«, erwiderte sie prompt
und ging mit schnellen Schritten zu dem Haken neben der Speisekammertür, an dem
ihre Schürze hing.
»Wir haben Sie überall gesucht.« Kai hatte
sich erhoben und ging auf sie zu. »Als Sie gestern Nachmittag spurlos verschwunden
waren, haben wir uns Sorgen gemacht.«
»So? Warum denn?« Sie wandte sich rasch
der Arbeitsplatte zu, damit Kai ihr Gesicht nicht aus der Nähe betrachten
konnte.
Doch der Junge ließ nicht locker. »Das war
schon merkwürdig gestern Nachmittag. Sie haben mich doch angerufen, um mir zu
sagen, dass die Polizei bei uns im Garten sei. Und dann … waren Sie weg.
Der Wiegand ist übrigens auch verschwunden.«
»Na ja, ich bin ja wieder da. Mir war nur
nicht gut«, log Irene Hogreve und sagte doch die Wahrheit. »Ich hatte nach
langer Zeit
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