Wolfsfeuer (German Edition)
das sie zum Schlafen anziehen konnte. Das Einzige, was sie fand, war ein eleganter Frisiermantel.
Niemals! Eher würde Alex ohne alles schlafen, und genau das tat sie schließlich auch.
Das Schlafzimmer war mit maßgefertigten Rollos ausgestattet, die das Sonnenlicht, oder das, was davon übrig war, abblockten, was morgens zweifellos seine Vorteile hatte, wenn man die ganze Nacht als Wolf durch die Wälder gestreift war.
Alex plante, den ganzen restlichen Tag und vielleicht sogar die Nacht zu schlafen. Was sie nicht eingeplant hatte, war der Traum.
Sie hatte ihn schon sehr lange Zeit nicht mehr geträumt und deshalb gehofft, dass er für immer verschwunden wäre. Bis sie dann zu befürchten begonnen hatte, dass das wirklich der Fall sein könnte.
Obwohl der Traum immer böse endete – weil es nicht nur ein Traum, sondern auch eine Erinnerung war – , begann er stets damit, dass Alex mit ihrem Vater zusammen war, wie sie es nie wieder sein würden. Und in der kurzen Zeit, bevor der Werwolf auftauchte, gab es für Alex eine Welt, in der er noch am Leben war.
War das nicht Sinn und Zweck von Träumen?
Sie frühstückten in einer kleinen Bergstadt in Tennessee, als der Anruf kam. Die vergangene Nacht war hektisch gewesen, und sie hatten noch nicht geschlafen.
Eine plötzliche Häufung von Todesfällen durch Ertrinken, verbunden mit Geschichten über eine enorm große Schlange und eine rätselhafte, gebrechliche alte Frau war der Grund ihres Besuchs. Wie erwartet, hatten sie einen Nasnas aufgespürt und ihn ins Jenseits befördert.
Jede Kultur verfügt über ihre eigenen Gestaltwandler-Legenden. Was die meisten jedoch nicht wissen, ist, dass diese Legenden der Wahrheit entspringen. Für einen Jägersucher sind Legenden die Basis seines Jobs.
Ein Nasnas ist ein arabischer Gestaltwandler, der das Aussehen eines Greises oder einer Greisin annimmt und um Hilfe beim Durchwaten eines Flusses bittet. Sobald er im Wasser steht, verwandelt sich der Nasnas in eine Seeschlange, zieht sein Opfer in die Tiefe und frisst es.
Um eine solche Kreatur zu besiegen, muss das Opfer den Kopf des Nasnas als Erster unter Wasser drücken und ihn dort festhalten. Was sich als verdammt schwierig erwiesen hatte, und das, obwohl die alte Dame nur um die vierzig Kilo wog, klatschnass war und die knochigen Finger eines Vögelchens hatte.
Trotzdem hatte Alex es geschafft. Sie feierten mit Pfannkuchen.
»Heute ist Vollmond«, sagt ihr Vater und gießt den halben Sirupkrug über einen Pfannkuchenstoß, der Paul Bunyan alle Ehre gemacht hätte.
Alex, fünfzehn Jahre alt, sieht ihn verdutzt an. »Bist du sicher?« Genau wie Charlie zählt sie die Nächte zwischen zwei Vollmonden.
Ihr Vater hält sie nie dazu an, sich zu benehmen, respektvoll zu sein, auf ihr loses Mundwerk zu achten oder dergleichen. Meistens lässt er sie einfach sie selbst sein. Er weiß, dass Alex auf lange Sicht nur überleben wird, wenn sie zäh, klug und sehr, sehr frech ist.
»Wohin?«, fragt sie, während sie vorsichtig nur einen Teil ihrer Pfannkuchen mit Sirup beträufelt. Sie mag sie nicht matschig.
»Hab noch keine Info.« Charlie spricht gerade mit vollem Mund, als sein Handy klingelt. Er kramt es heraus, wirft einen Blick auf das Display, tut, als wolle er einen Toast ausbringen, und begrüßt den Anrufer: »Hallo, Elise.«
Elise Hanover ist Edwards rechte Hand. Alex war ihr nie begegnet, hatte nie mit ihr gesprochen, weiß alles in allem nicht viel über sie. Elise lebt im Hauptquartier der Jägersucher , wo immer das sein mag, und verbringt jede Minute, in der sie nicht die Agenten und ihre Aufträge koordiniert, mit der Suche nach einem Heilmittel gegen Lykanthropie. Alex war schon immer der Auffassung, dass das beste Heilmittel darin besteht, jeden Werwolf vom Antlitz der Erde zu fegen. Wenn keine mehr da sind, können sie keine weiteren produzieren.
»Wird erledigt.« Charlie klappt das Handy zu und macht sich wieder über seine Pfannkuchen her.
»Was erledigen wir?«, fragt Alex.
Elise weiß bestimmt nicht, dass sie ihren Vater schon seit zwei Jahren bei der Jagd begleitet. Andererseits könnte Edward es ihr gesagt haben. Ihrem Vater zufolge wusste Edward alles.
»Was werden wir erledigen?«, wiederholt sie ungeduldig.
Charlie lächelt, obwohl sein Lächeln seit dem Tag, an dem er sich auf die Suche nach Alex’ Mutter gemacht hat und mit leeren Händen zurückgekommen ist, nicht mehr seine Augen erreicht. Alex weiß, dass er sich schuldig
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