Wolfsfieber
Plötzlich bemerkte ich
den Stand der Zeiger auf der Uhr, die auf dem Schreibtisch
gegenüber stand. Es war vier Uhr nachmittags und ich muss-
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te noch ein paar Bilder des St. Hodaser Fischteiches machen
für die Fotoserie der idyllischen Teiche im Bezirk. Ich hatte
es seit Tagen aufgeschoben und bis zur letzten Minute ge-
wartet und ausgerechnet jetzt fiel mir ein, dass ich nur noch
ein paar Stunden Licht hatte, um die Bilder zu schießen. Ich
riss mich widerwillig aus seiner Umklammerung und erklärte
Istvan, was ich noch zu erledigen hatte. Er schien mindes-
tens so enttäuscht darüber wie ich, verstand aber mein Di-
lemma. Ich hatte bereits versprochen, die Bilder bis morgen
früh zu schicken. Aber unsere wiederentdeckte Leidenschaft
bewirkte, dass Istvan mich nicht allein gehen lassen wollte.
„Der Teich liegt doch außerhalb, hinter einem Ulmen-
hain. Dort sieht uns bestimmt niemand. Und ich könnte im
Wagen warten, bis du die Fotos geschossen hast“, schlug er
vor und bemerkte zuerst gar nicht, dass es gar nicht nötig
war, mich zu überzeugen. Denn ich wollte genauso wenig
von ihm weg wie er von mir. Ich wollte nur schnell diese
Fotos machen und dann zurück zu ihm und dort weiterma-
chen, wo wir gerade unterbrochen hatten.
„Einverstanden. Aber du solltest wirklich im Wagen
bleiben. Mit seiner neuen Lackierung sieht er wenigstens
nicht mehr verdächtig aus, obwohl er noch immer auffällt
wie ein bunter Hund“, sagte ich ihm und begann, mir dabei
die Jeans anzuziehen. Er streifte sich sein Hemd über und
wir fuhren gemeinsam bei mir vorbei, damit ich noch die
Kamera aus meinem Zimmer holen konnte. Ich schnappte
mir die schwarze Kameratasche, die vorbereitet neben mei-
nem Schreibtisch stand, und hetzte die Treppen hinunter,
bis ich wieder bei Istvan im Wagen war. Wie sehr ich diese
getönten Scheiben liebte. So konnten wir gemeinsam zum
anderen Ende des Dorfes fahren, wo der Gemeindeteich
angelegt worden war. Früher war an dieser Stelle nur ein
schlammiger Löschteich gewesen, wie Istvan mir erklärte.
Aber schon vor meiner Geburt wurde der Tümpel gesäu-
bert und neu angelegt. Die Gemeinde pflanzte Weiden und
Akazien um den runden, kleinen Teich. Wir parkten gleich
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neben der geschotterten Zufahrtsstraße. Wir, und auch der
Wagen, wurden von den vier oder fünf Meter hohen Ulmen
vollkommen verdeckt. Das Licht war nicht mehr optimal,
aber es würden dennoch sehr malerische Fotos werden. Das
lag an der bescheidenen Zierde dieses Kleinodes. Der der-
zeitige Pächter gab sich viel Mühe, das Beste aus seiner An-
lage herauszuholen. Er hielt das Schilf unter Kontrolle, hatte
uns gegenüber eine kleine Blockhütte mit grünen Schindeln
errichtet, wo die Angelutensilien aufbewahrt wurden, und
zusätzlich versuchte er, mit riesigen Natursteinen eine Art
Dekorationseffekt zu erzeugen. Sein Vorgänger ließ einen
kleinen Holzsteg anbauen, der zu einer winzigen Insel in
der Mitte führte, in deren Zentrum eine riesige Trauerweide
wuchs, die einem Angler im Sommer wunderbaren Schatten
spendete.
Ich hatte meine Wagentür bereits geöffnet und stellte die
Kameratasche auf die Fußmatte unter mir. Istvan sah mir
dabei zu, wie ich die Spiegelreflexkamera zusammenstellte.
Als ich fertig war, gab ich sie ihm kurz, damit ich mir meinen
Parka anziehen konnte. Obwohl er die schwere Kamera in
der einen Hand hielt, gelang es ihm dennoch, meine Haare
zu halten, damit sie mir nicht im Weg waren, als ich den
Parka überstreifte. Er gab mir die Kamera zurück und setzte
sich auf meinen Platz, als ich ausstieg. Die Wagentür ließ
ich offen. Ich machte ein paar Schritte auf den Teich zu und
begann, einige Testfotos zu machen. Der bewölkte Himmel
verlieh dem Teich eine etwas düstere Stimmung, wie ich auf
dem LCD-Bildschirm feststellen konnte. Ich versuchte, die
Kameraeinstellungen daraufhin anzupassen. Die nächsten
Bilder waren zwar ebenso atmosphärisch und zeigten deut-
lich, dass es noch keine Frühlingsbilder waren, doch sie ho-
ben die einladende Schönheit des Teichs besser hervor. Der
Teich war eines der wenigen Wasserlöcher, die mir keine
Angst machten, da ich genau wusste, dass das Wasser zu
seicht war, um darin ertrinken zu können. Deshalb wagte ich
mich auch auf den Steg. Ich machte ein paar Nahaufnah-
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men von der Trauerweiden-Insel, von der ich wusste, dass
kein anderer Teich im Bezirk so etwas zu bieten hatte.
Als ich
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