Wolfsglut - Handeland, L: Wolfsglut
Jessie mich an.
„Selbstverständlich.“
„Als ob wir Ihnen irgendwas glauben würden.“
„Sie sind diejenige, die gefragt hat. Rufen Sie Edward an. Glauben Sie ihm .“
Alle verstummten. Ihnen war ebenso klar wie mir, dass Edward, falls er bislang nichts von meinem Dasein als Werwolf gewusst hatte und es jetzt herausfände, mir schneller das Gehirn wegpusten würde, als ich „Bitte Gnade“ winseln könnte.
„Ruft ihn an“, verlangte Jessie.
Erstaunlicherweise gehorchte Leigh ohne Widerworte. Zwei Minuten später beendete sie ihr Handygespräch mit Edward.
„Und?“, fragte Jessie, während Leigh mich einfach nur wortlos anstarrte.
„Er sagt, wir sollen sie in Frieden lassen.“
„Ihm ist bewusst, dass ihr bei Vollmond ein Fell wächst?“
„Edward stimmt mit Damien überein. Sie ist ebenfalls anders.“
Nach einem letzten Moment des Zögerns steckte Jessie ihre 44er weg.
Ich fühlte mich ohne die auf mich gerichteten Pistolen kein bisschen besser, was vermutlich daran lag, dass sie nun von vier Augenpaaren ersetzt wurden.
„Gibt es irgendeinen Ort, an dem wir reden können?“, fragte ich.
Ich hatte noch immer nicht mehr am Leib als T-Shirt und Jogginghose, und die Novembernächte in Wisconsin waren keinen Deut wärmer, als sie es in Montana gewesen waren. Ohne mein Fell fror ich erbärmlich.
„Wir haben neben der Polizeistation ein Haus gemietet“, antwortete Leigh. „Wir können dort hingehen.“
„Wohin hat Edward Nic gebracht?“
„Mandenauer hat ein Zimmer über dem Antiquitätenladen“, erwiderte Jessie. „Ich bin sicher, er fühlt sich da ganz wie zu Hause.“
Ich betrachtete die Gebäude, die die Hauptstraße flankierten, und wusste sofort, welches seins war. Mehrere Fenster gingen nach vorn raus, damit er die Straße im Auge behalten konnte; ich wettete, dass es auch auf der Rückseite Fenster gab, damit er beobachten konnte, was auch immer vielleicht aus dem Wald kam. Ein Zimmer im ersten Stock ist für Angriff und Verteidigung immer die beste Wahl.
Während wir weiter auf das Haus zugingen, wunderte ich mich über die Stille. Kein Hund bellte. Kein Baby schrie. In keinem der Wohnhäuser oder Geschäfte brannte Licht.
„Zu ruhig“, murmelte ich.
Leigh warf mir einen kurzen Blick über die Schulter zu. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht löste bei mir einen Schauder böser Vorahnung aus. Ich stellte mir eine leere Stadt vor und einen sehr vollen Wald.
„Niemand wurde gebissen“, erklärte Will.
„Aber wa s … “
„Tun wir dann hier?“, vollendete Jessie meinen Satz. „Dazu kommen wir schon noch.“
Wir gelangten zu einem großen Blockhaus am Ende der Straße. Die Veranda wirkte ein bisschen klapprig, aber ansonsten schien das Gebäude recht robust zu sein. Jessie kramte einen Schlüssel aus ihrer Jeanstasche, sperrte die Tür auf und knipste das Licht an. Wir blinzelten in die grelle Helligkeit.
Jessie winkte mich nach drinnen. Während ich mich an ihr vorbeischob, presste sie die Schultern gegen die Tür, um zu verhindern, dass wir uns versehentlich berührten. Ich versuchte, deswegen nicht verletzt zu sein, aber es gelang mir nicht. Ich war immer einsam gewesen, aber da niemand außer Edward von meinem Fluch wusste, waren solche Reaktionen auf ein Minimum reduziert gewesen.
Nachdem wir in dem kleinen Wohnzimmer Platz genommen hatten, folgte weiteres Starren. Jessie, die noch nie ein geduldiger Mensch gewesen war, ergriff als Erste das Wort. „Schießen Sie los, Doc, sonst bringe ich Sie dazu.“
Sie fing an, mir auf die Nerven zu gehen. „Ich würde zu gerne sehen, wie Sie das versuchen.“
Jessie sprang auf, und ich tat es ihr nach. Obwohl wir etwa gleich groß waren, wog sie circa zehn Pfund mehr als ich. Trotzdem wusste ich, wer bei einem Zweikampf siegen würde. Wenn sie nur nicht diese mit Silber geladene Pistole gehabt hätte.
Will griff nach ihrer Hand, bevor sie die Waffe ziehen konnte. Leigh stellte sich zwischen uns, und Damien streckte den Arm aus, um einen wütenden Angriff meinerseits zu verhindern. Aber noch bevor seine Finger mich berührten, riss er sie zurück.
Die Bewegung ließ mich innehalten, und ich erinnerte mich daran, wie ich mein Geheimnis all die Jahre bewahrt hatte. Wenn Damien schon nicht damit umgehen konnte, was ich war, wie sollte ich es dann von irgendjemandem sonst erwarten? Besonders von jemandem wie Nic.
Wenn ich ihm die Wahrheit sagte, würde er mich für verrückt halten. Wenn ich es ihm bewies, würde er
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