Wolfsherz
Frage fiel. Er wartete die Antwort auch gar nicht ab, sondern sprudelte, rasch und in fast schon beunruhigend verändertem Ton weiter: »Ja. Das hat sie. Was bezahlt Sie Ihnen?«
»Nein, das hat sie nicht!« erwiderte Stefan scharf. »Ich kenne Ihre Frau nicht. Ich kenne auch Sie nicht, und ich lege auch nicht den mindesten Wert darauf, Sie kennenzulernen, begreifen Sie das nicht? Ich bin nur zufällig hier!«
Der andere blickte ihn an, näherte sich um einen weiteren halben Schritt und hob die Hand, wie um sie ihm auf die Schulter zu legen. Stefan flehte, daß er es nicht tat. Er wußte nicht, was passieren würde, wenn der Mann ihn berührte. Was immer es war, das er gerade gespürt hatte, es war noch immer da. Und es wartete.
»Die ganze Sache ist mir mindestens genauso peinlich wie Ihnen«, fuhr Stefan fort. Durch die Aufzugtüren drang ein leises Klacken; vielleicht das Geräusch der Kabine, die sich eine Etage tiefer in Bewegung setzte. Er hörte auf, auf den Knopf einzuhämmern, drehte sich aber trotzdem nicht zu dem Fremden um. Sein Mund war plötzlich so trocken, daß er kaum noch sprechen konnte. »So glauben Sie mir doch endlich. Wir können die Sache jetzt für uns beide noch peinlicher machen, indem wir weiter hier herumstehen und palavern, oder wir drehen uns beide um und gehen unserer -«
»Sie wollen Geld«, sagte der Mercedesfahrer. Er schien Stefans Worte gar nicht gehört zu haben. Er wirkte auch nicht wütend, sondern mit einem Male fast erleichtert. »Das ist kein Problem. Sagen Sie mir, was Ihnen meine Frau bezahlt, und Sie bekommen das Doppelte. Sofort.«
Der Aufzug kam, und gleichzeitig wurde das Motorengeräusch hinter ihnen lauter und änderte seinen Klang, als der Wagen in das aus Beton gegossene Gewölbe des Parkhauses rollte. Für einen Moment huschte geisterhafter weißer Lichtschein über die Reihen der ordentlich abgestellten Fahrzeuge, und für einen noch kürzeren Moment, vielleicht wirklich nur für den Bruchteil einer Sekunde -
-
war nichts mehr, wie es sein sollte.
Die Welt machte einen Schritt durch eine Drehtür, auf deren anderer Seite eine vollkommen veränderte,
erschreckende
Wirklichkeit lag, eine Realität nicht nur jenseits des Bekannten, sondern darüber hinaus weit jenseits des Vorstellbaren und trotzdem auf furchteinflößende Weise vertraut.
Seine Sinne explodierten zu nie gekannter Intensität. Er roch, hörte und - vor allem - fühlte Dinge mit einer Eindringlichkeit, die die Grenzen echten körperlichen Schmerzes erreichte.
Noch
bevor sich die Aufzugtüren öffneten, wußte er, daß eine Frau heraustreten würde. Nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht alt. Er konnte ihr Deodorant riechen, und hätte er sich darauf konzentriert, hätte er sagen können, was sie am Abend zuvor gegessen hatte. Die Präsenz des Mercedesfahrers hingegen traf ihn wie ein Hammerschlag.
Nicht nur seine Gerüche. Sie explodierten zu der gleichen, unvorstellbaren Intensität wie alle anderen: Er konnte spüren, wo dieser Mann gestern abend gewesen war, wie es in seinem Zuhause aussah und was er in den letzten vier oder fünf Tagen gegessen hatte, hatte er sich angestrengt, sogar in der richtigen Reihenfolge, welches Parfüm die Frau benutzte, mit der er im Wagen gewesen war, ja, selbst was sie am Morgen zu sich genommen hatte, und auch - vor allem - daß sie mit dem, weshalb sie hierhergekommen waren, nicht zu Ende gekommen waren.
Aber das war nicht alles. Längst nicht alles. Wie zum Ausgleich für die plötzliche Hyperfunktion seiner Sinne arbeitete sein Sehvermögen mit einem Male nur noch eingeschränkt: in Schwarz-Weiß, körnig und mit ausgefransten Konturen, wie bei einer Videoaufnahme, die zu oft und auf zu billige Bänder umkopiert worden war. Doch was er sah, war von nie gekannter Eindringlichkeit. Mit einem Male bekam das Wort Körpersprache eine vollkommen neue Dimension. Der Mann vor ihm mußte nicht mehr sagen, was er dachte. Er konnte es sehen. Es war nicht nur seine Haltung, die Anspannung Jedes Muskels in seinem Gesicht, der Blick seiner dunklen Augen, in denen sich Panik und eine verzweifelte Entschlossenheit miteinander mischten, sein Geruch und der Klang seiner Stimme, es war die Gesamtheit all dieser winzigen Eindrücke, die sich zu mehr summierten, als er sich auch nur hätte vorstellen können. Selbst die Zeit schien plötzlich nicht mehr das zu sein, was er kannte; da er hundertmal mehr Eindrücke in derselben Zeitspanne au/nahm, schien sie sich w dehnen,
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