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Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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machte einen weiteren unsicheren Schritt auf den Wagen zu, blieb abermals stehen und versuchte ebenso verzweifelt wie vergeblich, das Chaos hinter seiner Stirn zu bändigen. Etwas im Rhythmus der Bewegung hinter den beschlagenen Scheiben des Mercedes änderte sich, und Stefan wußte, was gleich geschehen würde, aber er war immer noch nicht in der Lage, sich zu rühren oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Doch plötzlich wurde ihm klar, welchen Anblick er bieten mußte, nämlich den eines Voyeurs, der sich verstohlen an sein Opfer heranschlich und dem das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben stand.
    Die Erkenntnis kam zu spät.
    Als wäre der Gedanke ein Stichwort gewesen, flog die Fondtür des Mercedes mit einem Knall auf, und eine wütende Gestalt sprang ins Freie; im ersten Moment mit solcher Schnelligkeit, daß Stefan instinktiv die Hände hob, denn er war überzeugt davon, daß sich der Mann, ohne zu zögern, auf ihn stürzen würde. Nach nicht einmal zwei Schritten jedoch versiegte die Energie des anderen. Er blieb stehen und funkelte Stefan zwar noch wütend und herausfordernd an, bot aber trotzdem zugleich einen fast schon lächerlichen Anblick, denn er versuchte mit der linken Hand seine Hose festzuhalten, während er mit der anderen das Hemd in den Hosenbund stopfte. Die losen Enden seines Gürtels klimperten. Das Geräusch hallte unheimlich verzerrt von den nackten Betonwänden zurück, und Stefan musste an die Glocken eines Hundeschlittens denken, deren Läuten durch eine eisige Schneenacht an sein Gehör drang. Die Assoziation war vielleicht absurd, aber für einen Sekundenbruchteil trotzdem so deutlich, daß er das Bild regelrecht sah. Seine Phantasie schlug noch immer Kapriolen.
    »Was ist los?« brüllte der Mann. »Was suchst du hier?!«
    In den Worten lag eine Herausforderung, die der Rest seiner Erscheinung nicht halten konnte. Der Mann mußte mindestens doppelt so alt sein wie Stefan und um etliches größer und schwerer. Aber das meiste davon war untrainiertes Fett, und sein Gesichtsausdruck machte auch deutlich, daß er mindestens ebenso große Angst vor Stefan hatte wie dieser vor ihm. Wahrscheinlich mehr; denn im Grund war das, was Stefan in diesem Moment empfand, keine Angst. Er war erschüttert bis auf den Grund seiner Seele, und die Situation wurde ihm mit jedem Sekundenbruchteil peinlicher, aber da war auch noch etwas. Keine Angst, sondern... beinahe das Gegenteil.
    Trotz der Furcht, deren Geruch der Mann so deutlich verströmte, daß Stefan fast meinte, sie mit Händen greifen zu können, lag in seiner Haltung und seiner Stimme auch eine Herausforderung, die vielleicht aus Angst geboren, deshalb aber nicht weniger ernst zu nehmen war. Und irgend etwas in ihm reagierte auf diese Herausforderung,
begrüßte
sie regelrecht. Für einen Sekundenbruchteil ertappte er sich bei dem Gedanken, beinahe darauf zu
warten,
daß sich der andere auf ihn stürzte, um ihn zu packen, die Fäuste in sein Gesicht zu schlagen und -
    Stefan würgte den Gedanken mit aller Macht ab, trat einen halben Schritt zurück und breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände aus. »Ich...«, stammelte er. »Es tut mir leid. Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht...«
    »Hau bloß ab, du verdammter Spanner!« brüllte der andere. Er hob kampflustig die Fäuste, machte einen halben Schritt auf Stefan zu und blieb dann wieder stehen. Sein Blick flackerte unsicher, und an seinem Hals begann eine Ader zu pochen; so heftig, daß Stefan es selbst in fünf Schritten Entfernung noch deutlich erkennen konnte. Vielleicht hatte ihn Stefans Reaktion im allerersten Moment mit einem Mut erfüllt, der ihn selbst überraschte; und mit dem er nichts anfangen konnte. Viel wahrscheinlicher aber war er einfach in Panik und wußte nicht wirklich, was er tat.
    Wäre Stefan das gewesen, wofür er ihn offensichtlich hielt, dachte er beiläufig, hätte ihn dieser Fehler unter Umständen das Leben gekostet.
    Es war noch immer da. In seinem Kopf waren noch immer Gedanken, die nicht dort hingehörten. Er reagierte vollkommen schizophren. Er konnte selbst spüren, wie er feuerrot anlief, und das Gefühl der Peinlichkeit wurde so stark, daß sich sein Magen zu einem schmerzhaften Klumpen zusammenzog. Aber zugleich hinderte ihn irgend etwas daran, auch nur weiterzusprechen, geschweige denn, das einzig Vernünftige in diesem Moment zu tun und auf der Stelle herumzufahren und wegzulaufen. Plötzlich spürte er, wie gefährlich die

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