Wolfsherz
Nichts hatte sich verändert, und trotzdem spürte er, daß er nicht mehr allein war. Jemand war hier. Etwas. Vielleicht eine Kraft, die ihm beistehen würde. Vielleicht das Ding von der anderen Seite.
Stefan verscheuchte den Gedanken, drehte sich mühsam auf der Stelle herum und kroch wieder zu Rebecca und dem Mädchen zurück. Rebecca lag noch immer in der gleichen Haltung wie gerade da, aber Eva hatte aufgehört zu schluchzen und die Arme heruntergenommen. Ihr Blick war nach oben gerichtet; als Stefan den Kopf über den Rand des Metallblocks schob, traf sein Blick genau in den ihrer blauen Augen, sehr klaren Augen.
Etwas Sonderbares lag darin, das ihn im ersten Moment vollkommen verstörte, etwas...
viel zu
Vertrautes. Sie sah ihn sehr aufmerksam an, weder ängstlich noch feindselig, aber auch alles andere als freundlich. Es war unheimlich.
Mit einiger Mühe gelang es Stefan, sich vom Blick dieser unheimlichen Augen loszureißen. Er sah noch einmal zu Rebecca hinab, lauschte eine allerletzte Sekunde und bewegte sich dann so, daß er parallel zur Kante lag. Es war fast unmöglich, die knappen zwei Meter nach unten zu kommen, ohne einen Laut zu verursachen, zumal er nicht einfach springen konnte: Er wäre unweigerlich auf Rebecca getreten. So versuchte er, sich langsam über die Kante nach unten gleiten zu lassen, ohne an dem spiegelglatten Metall zu früh den Halt zu verlieren.
Natürlich blieb es bei dem bloßen Versuch.
Seine Finger verloren den Halt, lange bevor seine Füße dem Boden auch nur nahe waren. Er fiel, versuchte verzweifelt, sich noch im Sturz irgendwie zu drehen, um nicht auf Rebecca zu fallen, und spürte, wie ein grausamer Schmerz in seinem verletzten Bein explodierte. Tapfer verbiß er sich jeden Schmerzenslaut, prallte nur Zentimeter neben Rebeccas Gesicht und Hals auf den Boden und kippte mit hilflos rudernden Armen zur Seite. Wäre er nach links und gegen die Aluminiumverkleidung gestürzt, hätte man den Knall vermutlich bis zur dritten Etage hinauf gehört. So aber kippte er in die andere Richtung.
Nicht, daß das Ergebnis irgendwie besser gewesen wäre; nicht für
ihn.
Die Rückwand des Ganges war nicht glatt, sondern mit Rohren, Kabeln, Verbindungsstücken und Ventilen übersät, mit Schaltern, Hebeln und scharfkantigen Schlauchschellen.
Jedes einzelne dieser Hindernisse bohrte sich wie ein stumpfes Messer in seinen Rücken, als er an der Wand hinunterrutschte.
Der Schmerz war so schlimm, daß er nicht einmal in Gefahr war, einen Schrei auszustoßen. Alles, was über seine Lippen kam, war ein atemloses, halb ersticktes Keuchen, während grellrote Schmerzblumen abwechselnd in seinem Rücken und hinter seinen geschlossenen Augenlidern explodierten. Alles drehte sich um ihn. Er hatte das Gefühl, sich mindestens eine Rippe gebrochen zu haben, wahrscheinlich mehr. Selbst das Luftholen bereitete ihm Qual.
Etwas berührte sein Gesicht; flüchtig und kühl, aber trotzdem voller Kraft. Als er die Augen öffnete, erkannte er ohne Überraschung, daß es Evas Hand gewesen war. Das Mädchen war zu ihm herübergekrochen und kauerte in einer sonderbaren, sprungbereiten Haltung vor ihm. Der unheimliche Ausdruck war immer noch in seinen Augen, aber jetzt war noch etwas hinzugekommen. Stefan konnte nicht sagen, was es war, aber es hatte mit dem vertrautem Gefühl zu tun, das er noch immer spürte.
Vielleicht, dachte er verblüfft, war es tatsächlich
Eva
gewesen, deren Nähe er vorhin, oben auf dem Maschinenblock, gefühlt hatte. Es war jetzt so unheimlich wie gerade, vielleicht noch mehr: Er hatte dieses Kind alles in allem in seinem ganzen Leben kaum mehr als ein paar Stunden lang gesehen, und doch empfand er plötzlich ein Gefühl von Zuneigung und Vertrauen, als hätte er jede Sekunde seines Lebens mit ihm verbracht. Was er gerade über Rebecca gedacht hatte, das galt in hundertfacher Potenz nun auch für Eva: Er würde nicht zulassen, daß irgend jemand diesem Kind etwas tat. Und wenn er mit bloßen Händen gegen die ganze Welt kämpfen mußte.
»Schon gut«, flüsterte er. »Keine Angst, Kleines. Ich bringe uns hier heraus. Hab keine Angst.«
Er kam sich ein bißchen lächerlich bei diesen Worten vor. Wenn hier jemand Angst hatte, dann war es bestimmt nicht Eva. In ihren Augen blitzte es auch prompt auf; er konnte nicht sagen, ob spöttisch oder warnend, aber er war ziemlich sicher, daß sie seine Worte nicht nur gehört, sondern eindeutig verstanden hatte.
Stefan atmete tief ein und
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