Wolfsherz
Boden.
Im gleichen Moment feuerte White seine Waffe ab. Wäre Barkow einen Sekundenbruchteil später gestürzt, hätte die Kugel ihn erwischt, aber Stefan war sicher, daß das White vollkommen egal war. Offenbar vertraute er darauf, daß das großkalibrige Geschoß seinen Körper einfach durchschlagen würde, ehe es Sonja traf. Barkow entging diesem Schicksal jedoch, und Sonja wurde zurückgeschleudert und kämpfte eine Sekunde mit wild rudernden Armen um ihr Gleichgewicht. Hinter ihr fetzten Holzsplitter und Funken aus dem Türrahmen.
Offenbar hatte Whites Kugel jedoch kein lebenswichtiges Organ getroffen; das, oder Sonja beherrschte die Kunst der Regeneration sehr viel perfekter als ihre beiden Brüder, die sie erledigt hatten. Sie stürzte nicht einmal, sondern stand nur einen kurzen Moment lang reglos da. Ihre Augen wurden glasig, und auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck höchster Konzentration. Und diese eine Sekunde reichte, um selbst Stefan, der wußte, welcher Kreatur er gegenüberstand, einen eisigen Schauer über den Rücken laufen zu lassen.
Sonja hatte sich verändert. Sie war nicht zum Wolf geworden, aber sie war auch nicht mehr ganz menschlich. Ihre Gestalt war verkümmert, nach vorne gebeugt und sprungbereit, als hätten ihre Muskeln mehr Spannung, als ihr menschliches Skelett auszugleichen imstande war. Ihre Finger hatten sich zu Klauen geformt, an denen fürchterliche Krallen blitzten wie fünf Zentimeter lange, gekrümmte Messer, und ihre Handrücken und die Unterarme waren von dichtem schwarzem Fell bedeckt. Ihre Ohren waren jetzt tatsächlich die eines Wolfs, spitz und lauschend aufgestellt und in ständiger Bewegung, wie kleine, unabhängig voneinander agierende Radarantennen, und in ihren Augen, die vollkommen schwarz geworden waren, loderte etwas Böses, Mordlustiges und unglaublich Altes. Hinter ihren zurückgezogenen Lippen blitzten mörderische Reißzähne. Ihr Gesicht selbst hatte sich – noch? - nicht verändert, und trotzdem war sein Anblick vielleicht der schlimmste. Es...
bewegte
sich, als kröche dicht unter ihrer Haut etwas Dunkles, Formloses herum, das heraus und Gestalt annehmen wollte.
White schoß erneut, aber er war durch den Anblick offensichtlich so schockiert, daß er sein Ziel verfehlte. Die Kugel stanzte direkt neben Sonjas Kopf ein faustgroßes Loch in die Wand, und bevor er ein drittes Mal feuern konnte, war Barkow wieder auf den Füßen.
Er hatte aus seinem ersten Zusammenstoß mit Sonja gelernt. Sie war zwei Köpfe kleiner als er und wog allerhöchstens die Hälfte, aber er versuchte nicht, sie zu packen oder nach ihr zu schlagen, was sein sicheres Todesurteil gewesen wäre. Statt dessen sprang er auf sie zu, knickte plötzlich in der Hüfte ein und versetzte ihr einen perfekten, schräg nach oben auf ihr Gesicht gezielten Karate-Tritt.
Sein schwerer Armeestiefel hätte jedem Menschen das Genick gebrochen. Dem nur noch halb menschlichen Wesen, dem sie gegenüberstanden, vermochte er wahrscheinlich nicht einmal Schmerzen zuzufügen. Aber die pure Wucht des Fußtrittes schleuderte Sonja zurück und ließ sie hilflos rücklings aus dem Zimmer und gegen das Treppengeländer draußen stolpern. Barkow stieß einen gellenden Kampflaut aus, stieß sich ansatzlos ab und schien sich plötzlich in ein menschliches Geschoß zu verwandeln. Sein Körper flog nahezu waagerecht durch die Luft, und seine ausgestreckten Beine trafen Sonja mit vernichtender Wucht vor die Brust.
Der Körper der Werwölfin hielt auch diesem Angriff stand.
Das Geländer, an dem sie lehnte, nicht.
Es zerbrach. Barkow fiel schwer zu Boden, schrie wimmernd auf und griff sich an die Schulter, und Sonja kippte wie in Zeitlupe nach hinten, ruderte so wild mit den Armen, daß es fast schon komisch aussah, und suchte nach irgendeinem Halt. Sie fand keinen. Lautlos und mit einem Ausdruck maßloser Überraschung im Gesicht stürzte sie weiter nach hinten und fiel in das brennende Wohnzimmer hinab.
Nur einen Sekundenbruchteil, nachdem das dumpfe Geräusch ihres Aufpralls zu ihnen heraufgeweht war, waren Stefan und White auf den Beinen und stürmten aus dem Zimmer.
Die Hitze, die ihnen entgegenschlug, war unvorstellbar, und das Licht, das von unten heraufstrahlte, schien Stefans Netzhäute verbrennen zu wollen. Neben ihm stieß White einen Laut zwischen einem Keuchen und einem Schmerzensschrei aus, als hätte die glühende Luft seine Kehle verbrannt, als er sie einzuatmen versuchte, und auch Barkow
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