Wolfsherz
Überzeugung -schien er sich nichts gebrochen zu haben.
Mühsam arbeitete sich Stefan in die Höhe. Er verzog das Gesicht, als er auf seine zerschundenen, blutenden Hände herabsah, fühlte aber noch immer keinen Schmerz. Stefan war nie in seinem Leben schwer verletzt worden, ohne dabei das Bewußtsein zu verlieren, und hatte keine Ahnung, wie lange der Schock anhielt. Aber vermutlich blieben ihm bestenfalls Minuten, ehe die betäubende Wirkung nachließ und jede noch so kleine Bewegung zu einer Tortur wurde. Bis dahin mußte er so weit von hier weg, wie es nur ging.
Er rannte los, blindlings, ohne zu wissen, wohin und ob er sich Rebecca und Wissler dabei näherte oder sich weiter von ihnen entfernte. Der Boden fiel noch immer steil ab; nicht mehr so lebensgefährlich steil wie zuvor, aber steil genug, daß er nicht so schnell laufen konnte, wie es eigentlich ging, aus Angst, erneut zu stürzen und sich dabei diesmal vielleicht wirklich zu verletzen. Dazu kam, daß es hier unten noch dunkler zu sein schien als oben auf dem Grat. Er konnte nur wenige Schritte weit sehen. Der Boden war mit Geröll und losen Steinen übersät, und manchmal tauchten gefährliche Hindernisse aus der Dunkelheit vor ihm auf, denen er nur mühsam ausweichen konnte. Mit dem winzigen Rest seines Verstandes, der nicht vollauf damit beschäftigt war, ihn irgendwie auf den Beinen zu halten, faßte er einen grimmigen Entschluß: Er würde Wissler umbringen, sobald er ihn in die Finger bekam.
Der Hang schien kein Ende zu nehmen. Es war schwer, in seinem aufgeregten Zustand und bei den herrschenden Lichtverhältnissen Entfernungen abzuschätzen, aber das Wolfsherz mußte sehr viel tiefer sein, als es von oben den Anschein gehabt hatte; kein Tal, sondern eine tief eingeschnittene Schlucht, in die niemand, der bei halbwegs klarem Verstand war, hinabsteigen würde.
Stefan stolperte weiter, aber natürlich kam es am Ende, wie es kommen mußte: Er wich einem Dutzend Felsen und Baumstämmen aus, mit denen die Dunkelheit auf ihn zielte, aber schließlich prallte er gegen einen Baum und fiel. Er überschlug sich, schlitterte ein Stückweit auf Rücken und Hosenboden weiter und überschlug sich noch zwei-, oder dreimal, ehe er endlich zur Ruhe kam. Diesmal
tat es
weh.
Als er sich hochstemmte, hörte er Schritte. Etwas bewegte sich in der Dunkelheit links von ihm. Stefan kniff die Augen zusammen. Er konnte die Schritte immer noch hören, und diesmal sah er einen Schatten, der sich direkt auf ihn zu bewegte. Wissler oder Becci.
Als er seinen Irrtum begriff, war es längst zu spät. Weder Wissler noch Rebecca trugen weiße Tarnanzüge. Und sie hätten auch nicht mit einer Maschinenpistole auf ihn gezielt.
Stefan stolperte mit einem erstickten Keuchen zurück. Der Russe gab eine kurze Salve auf ihn ab, die Funken und pulverisierten Schnee von seinen Füßen hochfliegen ließ, hörte aber dann wieder auf zu schießen und richtete die Waffe mit einem befehlenden »Hoi!« auf ihn.
Stefan erstarrte. Er hob instinktiv die Hände, aber er wußte auch zugleich, daß das das Falscheste war, was er nur tun konnte. Eine MPi-Salve in den Rücken war vermutlich hundertmal gnädiger als das, was ihm bevorstand, wenn er in Gefangenschaft geriet. Seine Gedanken rasten. Er war fest entschlossen, wenn schon nicht um sein Leben, dann wenigstens um einen schnellen Tod zu kämpfen.
Der Russe kam langsam näher. Er war sehr nervös. Seine Finger spielten unentwegt am Abzug der Waffe, und seine Augen waren in beständiger, hektischer Bewegung. Vielleicht vermutete er eine Falle.
Stefan erschrak fast, als er sah, wie jung der Schütze noch war. Zwanzig. Allerhöchstens. Als Barkow mit seiner kompletten Einheit »desertiert« war, konnte der Soldat kaum mehr als ein Kind gewesen sein. Im Grunde war er das jetzt noch. Die Erkenntnis gab Stefan den Mut zu einer Verzweiflungstat. Er wartete, bis der junge Soldat fast heran war, dann drehte er sich blitzschnell zur Seite, packte den Lauf der Maschinenpistole und riß mit aller Kraft daran. Es gelang ihm nicht, dem Soldaten die Waffe abzunehmen, aber der junge verlor halbwegs das Gleichgewicht und knickte mit dem Oberkörper nach vorne. Er ließ seine Waffe immer noch nicht los, sondern zog im Gegenteil den Abzug durch. Aus dem Lauf züngelten orangerote Flammen, und das Metall wurde von einer Sekunde zur anderen glühendheiß.
Stefan schrie vor Schmerz, hielt den Lauf der MPi aber trotzdem eisern fest und drückte ihn mit aller
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