Wolfsherz
Kraft von sich fort. Gleichzeitig riß er das Knie an und versuchte, es dem Jungen ins Gesicht zu schmettern.
Offensichtlich hatte er ihn unterschätzt. Auch wenn er nur halb so alt war wie er, reagierte er ungleich schneller und mit der Präzision eines hochtrainierten Kämpfers. Er ließ seine Waffe los, blockte Stefans Knie mit der linken Hand ab und hebelte sein Bein mit der anderen Hand aus. Statt des russischen Soldaten war es Stefan, der hochgerissen und dann mit furchtbarer Wucht auf den Rücken geschmettert wurde.
Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen, so daß er nicht einmal schreien konnte. Ein dumpfer Schmerz explodierte in seinem Hinterkopf und trieb ihn für eine Sekunde an den Rand der Bewußtlosigkeit. Er konnte nur noch verschwommen sehen, und als er aufstehen wollte, ging es nicht. Der Russe ragte riesig und drohend über ihm empor, ein weißes Gespenst, das ihn jetzt töten würde. Das war's dann, dachte Stefan benommen.
Er sah einen Schatten, nur aus den Augenwinkeln, eine zweite, dunkler gekleidete Gestalt. Sie sprang den Russen lautlos an, umschlang ihn von hinten mit den Armen und rammte ihm gleichzeitig das Knie in die Nieren. Der junge Russe keuchte vor Schmerz, ließ seine Waffe fallen und brach in die Knie, und Wissler legte die linke Hand unter sein Kinn, preßte die rechte mit weit gespreizten Fingern gegen seine Stirn und riß seinen Kopf dann mit einem brutalen Ruck herum. Stefan schloß entsetzt die Augen, aber er hatte genug Kung-Fu-Filme gesehen, um zu wissen, was das trockene Knacken bedeutete, das an sein Ohr drang.
Wissler ließ den Leichnam des Russen zu Boden sinken und kniete neben Stefan nieder. »Alles in Ordnung?« fragte er. »Sind Sie verletzt?«
»Ich... glaube nicht«, murmelte Stefan. »Wo... wo ist Becci?«
»Ganz in der Nähe.« Wissler änderte seine Position, griff von hinten unter Stefans Achseln und richtete ihn mit spielerischer Leichtigkeit auf. Er hatte Hände wie aus Eisen. »Sie ist in Ordnung. Kommen Sie!«
Stefan schüttelte seine Hände ab und brachte irgendwie das Kunststück fertig, aus eigener Kraft stehenzubleiben. Er starrte auf den Leichnam des Russen hinab. Sein Kopf war fast um hundertachtzig Grad gedreht, und er sah tot noch viel jünger aus als lebendig.
»Sie haben ihn umgebracht«, murmelte er.
»Er oder Sie«, antwortete Wissler. »Kommen Sie. Es sind noch mehr von den Kerlen in der Gegend!«
»Aber er war fast noch ein Kind!« protestierte Stefan. Ein Gefühl kalten, eisigen Entsetzens breitete sich in ihm aus, das er nicht richtig definieren konnte; vielleicht, weil es ihm vollkommen neu war.
»Ein Kind mit einer Kalaschnikow!« Wissler bückte sich nach der Waffe des Jungen, zog das Magazin ab und steckte es ein. »Wahrscheinlich hat er mindestens ein Dutzend Menschen auf dem Gewissen. Wollten Sie der dreizehnte werden?«
Stefan antwortete nicht. Wissler starrte ihn noch eine Sekunde lang aus zornig funkelnden Augen an, aber dann entspannte er sich plötzlich. Er versuchte sogar zu lächeln. »Kommen Sie, Stefan. Wir müssen hier verschwinden. Wahrscheinlich sind noch zwanzig oder dreißig andere in der Gegend.«
»Warum bringen Sie sie nicht alle um?« fragte Stefan verächtlich.
»Weil ich zufällig nicht James Bond heiße«, antwortete Wissler. Er klang ehrlich verletzt. »Und so ganz nebenbei macht es mir auch keinen Spaß, Menschen umzubringen. Was ist jetzt? Soll ich Sie zu Ihrer Frau bringen, oder wollen Sie hierbleiben und auf die Russen warten?«
Letzten Endes hatte sie doch reagiert, wie Stefan es erwartet hatte, und einen Weinkrampf bekommen. Er war sehr froh darüber. In ihrer Partnerschaft war Rebecca eindeutig die Stärkere; manchmal so stark, daß ihre Kraft ihn erschreckte und er sich fragte, ob das, was er für Kraft hielt, nicht in Wahrheit nur Verbitterung war: ein Panzer, den sie zwischen sich und der Welt errichtet hatte und hinter dem sie sich verkroch. Hart genug, jeden Schmerz fernzuhalten, und vielleicht sogar ihn selbst. So empfand er ihr Weinen als sehr erleichternd; die Tränen taten ihr nicht weh, sondern brachen im Gegenteil den Bann und spülten den Schmerz aus ihr heraus, statt ihn dem Reservoir an Leid hinzuzufügen, das sie Jahr um Jahr in sich angelegt hatte. Wenigstens hoffte er, daß es so war.
»Fühlst du dich jetzt besser?« fragte er. Sie hatten im Schutz einer kleinen Baumgruppe Zuflucht gesucht, die an allen Seiten von Dunkelheit belagert wurde. Stefan hatte sein
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