Wolfskinder - Lindqvist, J: Wolfskinder - Lilla stjärna: Wolfskinder
zur Seite und gab die Tür frei.
»Du, Schwesterherz? Möchtest du in diesem Programm mitmachen, das wir gesehen haben? Du erinnerst dich, wo sie alle gesungen haben?«
Theres saß am Computer und las einen Artikel über Tiger. Sie nickte, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.
»Du«, sagte Jerry. »Mal ganz im Ernst. Würdest du das wirklich wollen? Da sind vermutlich viele Leute und so.«
»Du kommst mit.«
»Ja, ja. Klar. Natürlich komme ich mit. Aber das wäre dochsuper, irgendwo zu singen, wo die Leute hören können … wie du singen kannst. Das ist ja irgendwie Verschwendung, dass du immer nur hier mit mir singst, oder?«
Theres antwortete nicht, und Jerry wurde bewusst, dass er eigentlich nur mit sich selbst redete, dass sie ja schon geantwortet hatte. Jerry zeigte ihr Angelikas Ausweis. »Was meinst du, sieht dieses Mädchen dir ähnlich?«
»Ich weiß nicht.«
Jerry musterte die Fotografie. Sie war vermutlich schon vor ein paar Jahren aufgenommen worden, weil das Mädchen noch gar nicht richtig wie ein Teenager aussah. Sie war Theres nicht direkt ähnlich, abgesehen von den langen blonden Haaren, aber er glaubte nicht, dass sie es so genau nehmen würden. Es handelte sich ja nicht gerade um ein politisches Gipfeltreffen.
Er spann den Faden weiter. Sozialversicherungsnummer, Name. Kontrolle, Fernsehen. Alles in allem war es wohl keine besonders gute Idee. Er war von der bloßen Möglichkeit mitgerissen worden. Aber es war zu gefährlich. Man wusste nicht, wohin das alles führen konnte. Na ja, den Ausweis würde er jedenfalls behalten, man wusste ja nie, wann man ihn gebrauchen könnte.
Theres stand vom Computer auf und sagte: »Komm jetzt.«
»Wohin soll ich kommen?«
»Wir gehen jetzt. Zum Fernsehprogramm.«
Jerry musste lächeln. »Nee, das ist erst in zehn Tagen, weißt du, und ich glaube nicht, dass … wir müssen uns das wohl noch einmal überlegen.«
Er überlegte. Und überlegte. Aus Spaß lud er das Anmeldeformular herunter und füllte es aus, aus reiner Neugierde schaute er nach, welche Adresse das Grand Hôtel hatte. Nur um zu sehen, ob es funktionierte, änderte er mit einer Nadel und einem dünnen Faserschreiber eine Eins in Angelikas Geburtsdatum in eine Vier. Um zum Abschluss zu bringen, was er angefangen hatte, zog er den Ausweis ein paar Mal durch den Kies, damit er einbisschen mitgenommen aussah und der Eingriff nicht mehr so auffiel.
Weil sie nichts anderes vorhatten, übten Theres und er ein paar Lieder ein, die gut klangen, wenn sie sie a cappella sang. Theres wollte »Tausend und eine Nacht« singen, was Jerry für keine gute Idee hielt. Aber es spielte ja keine Rolle, da sie ohnehin nicht mitmachen würde.
Sicher wäre es gut, wenn Theres rauskommen und Leute in ihrem Alter treffen könnte, und natürlich war es fast ein Verbrechen, dass nicht mehr Menschen sich von ihrer Stimme berühren lassen durften, und zugegebenermaßen sehnte sich Jerry auch nach einer gewissen Wiedergutmachung, nach einem Jetzt sperrt mal die Ohren auf, ihr verdammten Kanaillen , aber wer auch immer diese Kanaillen sein mochten, sie konnten auf lange Sicht gefährlich werden.
So dachte er die ganze Zeit, und so dachte er immer noch, als sie am vierzehnten Mai um acht Uhr morgens mit der U-Bahn nach Kungsträdgården fuhren, um einfach mal zu schauen, was sich am Grand Hôtel so tat. Sie gingen Hand in Hand am Nybrokajen entlang, und Jerry konnte fast keine ihrer Fragen beantworten. Im Zentrum von Stockholm fühlte er sich verloren.
Bis jetzt hatte sich nur sein Verstand dagegen gewehrt, während seine Gefühle und Impulse sie die ganze Zeit vorwärtsgetrieben hatten. Jetzt aber begannen auch die Gefühle in dieselbe Richtung zu marschieren. Er hatte nicht die geringste Kontrolle über die Situation. Nachdem sie den Berzelii Park passiert hatten und in die Stallgatan abgebogen waren, blieb Jerry stehen, ließ Theres’ Hand los und sagte: »Nee, nee. Ich glaube nicht, dass wir das tun sollten, Schwesterchen. Uns geht es doch gut, so wie es jetzt gerade ist, oder? Diese Sache wird uns nur in Schwierigkeiten bringen.«
Theres schaute sich um. Mädchen und Jungen in ihrem Alter, allein oder in Gruppen, mit oder ohne Eltern, gingen an ihnen vorbei. Ohne in Jerrys Richtung zu sehen, schloss sie sich dem Strom an.
Jerry war drauf und dran, »Schwesterchen!« zu rufen, biss sich aber rechtzeitig auf die Lippen, schloss zu Theres auf und sagte: »Tora. Wir gehen jetzt nach Hause.«
Theres
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