Wolfskinder - Lindqvist, J: Wolfskinder - Lilla stjärna: Wolfskinder
Jerry. »Die am Wettbewerb teilnehmen?«
»Alle kleinen Mädchen und alle kleinen Jungs«, sagte Theres. »Sie haben Angst vor den Großen.«
»Sie sind wohl vor allen Dingen nervös, denke ich.«
»Sie sind nervös, weil sie Angst haben. Ich raff das nicht.«
Jerry lächelte, trotz allem. Die neuen Ausdrücke, die Theres sich wie Textbausteine angeeignet hatte, klangen immer noch fremd in ihrem Mund. »Was genau raffst du denn nicht?«, fragte er.
»Warum sie Angst haben. Wir sind viele. Die Großen sind nicht viele.«
»Nee«, sagte Jerry. »So kann man es natürlich auch sehen.«
Ein Stückchen weiter saß ein Mädchen, dass sogar jünger aussah als Theres, und Jerry fragte sich, ob noch mehr hier unter falscher Flagge fuhren. Das Mädchen selbst massierte sich manisch die Kopfhaut und fing plötzlich an zu zittern und zu schluchzen. Theres stand auf und ging zu ihr hinüber, ging vor ihren Füßen in die Hocke.
Jerry hörte nicht, was sie sagten, aber nach einer Weile hörte das Mädchen auf zu weinen und nickte tapfer. Sie griff nach Theres’ Hand und tätschelte sie kurz. Theres ließ es geschehen. Dann stand sie auf und setzte sich wieder zu Jerry.
»Was war mit ihr los?«, fragte er.
»Das durfte ich nicht sagen«, sagte Theres und starrte geradeaus vor sich hin. Jerry hatte sie noch nie so erlebt. Eine schwere, gravitätische Ruhe strahlte von ihr aus, und sie war so stark, dass Jerry unbewusst ein Stück näher an sie heranrückte, von ihr angezogen wurde, um seine eigene Unruhe zu vermindern. Sie saß mit durchgedrücktem Rücken da, vollkommen still und mit einem Ausdruck der Unberührtheit im Gesicht, der verkündete, dass sie alles durchschaut hatte, dass das Gespenst nur vorgegaukelt war.
Etwas später brach ein älteres Mädchen mit schwarzem, toupiertem Haar zusammen und zog eine Freundin mit hinunter, bis sie beide dasaßen und schluchzten, während die Mascara ihre Wangen verschmierte.
Das Resultat war in diesem Fall nicht sofort zu erkennen, aber Jerry beobachtete, dass die beiden Mädchen Theres sofort an sich heranließen und zuhörten, was sie zu sagen hatte. Eine von ihnen lachte und schüttelte den Kopf, als ob Theres etwas gesagt hatte, das absurd, aber ermutigend war. Als sie merkte, dass Theres keine Miene verzog, hörte sie auf zu lachen und beugte sich näher an sie heran, um zuzuhören.
Und so ging es weiter. Von den Wartenden brach niemand mehr zusammen, aber manchmal kamen ein Mädchen oder ein Junge aus den oberen Räumen zurück, die offensichtlich nicht die Reaktion bekommen hatten, die sie erwartet hatten. Die Jungen waren meistens wütend, und Theres kümmerte sich nicht um sie, aber manchmal kam auch ein Mädchen herunter, dem Tränen über die Wangen rollten, und schon war Theres da und tröstete sie. Oder was auch immer sie dort machte.
Manche ignorierten sie einfach, andere wurden aggressiv, wenn diese Fremde in ihrer schlimmsten Stunde Kontakt zu ihnen suchte, aber viele erwiderten Theres’ Annäherung und setzten sich zu einem Gespräch mit ihr zusammen. Manchmal endete es mit einer Umarmung, die Theres annahm, ohne sie zu erwidern, manchmal bekam sie einen Zettel oder eine Karte. Vermutlich ein Name, eine Telefonnummer.
Gegen drei Uhr kam endlich eine Frau mit einem Headset und einer Mappe in der Hand herein und rief Theres’ Nummer zusammen mit drei anderen auf.
Theres, die gerade in ein Gespräch mit einem rothaarigen Mädchen verwickelt war, die beinahe die Treppen von den Juryräumen heruntergetragen werden musste, reagierte nicht. Jerry lief zu ihr hinüber und sagte, dass sie jetzt an der Reihe sei. Theres stand auf und verabschiedete sich von dem rothaarigen Mädchen, die mit erstickter Stimme flüsterte: »Viel Glück.«
»Willst du, dass ich mitkomme?«, fragte Jerry.
»Das ist nicht nötig«, sagte Theres und machte sich auf den Weg zur Treppe. Jerry sah sie auf der oberen Ebene mit der Headset-Frau in einem Raum verschwinden, und es stach ihm ins Herz. Irgendetwas hatte sich an diesem Tag unwiderruflich verändert. Er wusste nicht, ob es zum Guten oder zum Schlechten war. Wie immer.
Drei Minuten später kam Theres wieder heraus. Einige der Mädchen, mit denen sie gesprochen hatte, waren noch geblieben, wahrscheinlich, um zu sehen, wie es ihr ergehen würde, und sie war sofort von sieben eifrig fragenden Gesichtern umzingelt.
Von Theres’ Gesicht konnte man nichts ablesen. Sie sah genauso aus, wie sie hineingegangen war. Das Einzige, was
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