Wolfskinder - Lindqvist, J: Wolfskinder - Lilla stjärna: Wolfskinder
Lennart und Laila mit den Werkzeugen zu sezieren, die sie zur Hand hatte, bis er sie bat, damit aufzuhören, weil er Schwierigkeiten hatte, sich bei diesen Geräuschen zu konzentrieren. Als sie sich auf ihn zubewegte, befahl er ihr, dort zu bleiben, wo sie war, und Theres setzte sich mitten in der Blutlache auf den Boden.
Er ging davon aus, dass viele andere Menschen von Panik ergriffen worden wären. Sie hätten geschrien, gekotzt oder so etwas in der Art. Die Szene, die sich seinen Augen darbot, konnte man sich nicht widerwärtiger vorstellen. Aber vielleicht gab es trotzdem einen positiven Nebeneffekt beim regelmäßigen Genuss extremer Gewaltfilme. Er hatte das meiste schon gesehen, ja, sogar schon Schlimmeres als das, was Theres hier angestellt hatte. Zum Beispiel aß sie ihre Eltern nicht auf.
Vielleicht war er aber auch nur betäubt, schlichtweg nicht in der Lage, die Situation als etwas anderes wahrzunehmen als eine Filmszene, in der er jetzt mitspielen musste. Das Problemwar, dass ihm ein Drehbuch fehlte und er nicht die geringste Ahnung hatte, was er als Nächstes tun sollte.
Ihm war bewusst, dass er die Polizei verständigen musste, und er ging alles durch, was er aus den vielen Filmen und real crime -Serien wusste. Er wusste, dass er ein Alibi besaß, das einer Prüfung standhalten würde, er wusste aber auch, dass dieses Alibi mit jeder Minute, die verstrich, schwächer wurde. Er wusste nicht, wie lange Lennart und Laila schon tot waren, aber man musste schon eine Weile damit beschäftigt sein, um sie derart akribisch zu Mus zu verarbeiten.
Das Einfachste wäre natürlich gewesen, sie anzurufen und alles genau so zu schildern, wie es war. Er würde vermutlich Ärger bekommen, weil er von Theres’ Existenz gewusst, aber nichts gemeldet hatte, vielleicht sogar ein Jahr in den Knast wandern, aber das wäre auch alles gewesen. Sie würden Lennart und Laila begraben und Theres in die Klapsmühle stecken. Ende der Geschichte.
Nee, nee. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. So wollte er es auf keinen Fall haben. Vor allem die Vorstellung von Theres in der Klapsmühle schmeckte ihm gar nicht. So gaga sie auch war – und sie war ganz schön gaga –, so wollte er sie nicht in irgendeiner Zelle sitzen sehen, wo sie sich für den Rest ihres Lebens die Nägel abkauen konnte. Also musste er sich etwas ausdenken. Und zwar schnell.
Nachdem er eine Weile überlegt hatte, hatte er einen miesen Plan, der allerdings das Beste war, was ihm eingefallen war.
»Theres?«, sagte er. Das Mädchen schaute ihn nicht an, drehte aber den Kopf in seine Richtung. »Ich glaube, du solltest dir jetzt …« Er unterbrach sich, formulierte es um. »Zieh dir andere Sachen an.«
Das Mädchen reagierte nicht. Er wollte nicht zu ihr gehen, wollte sich dem Ort des Gemetzels nicht zu sehr nähern und kontaminiert werden, wie es in der Fachsprache hieß, keine Spuren hinterlassen. Mit lauterer Stimme sagte er: »Geh in dein Zimmer. Zieh dir saubere Sachen an. Jetzt.«
Das Mädchen stand auf und hinterließ eine Blutspur, als sie durch den Keller verschwand. Jerry ging nach oben ins Haus, wo er sich einen Schlafsack holte, eine Tüte geschnittenes Brot, eine Tube Kaviarcreme und eine Taschenlampe. Er ging nach draußen und um das Haus herum, die Treppe hinunter und kam durch die Hintertür wieder in den Keller hinein. Vorsichtig und ohne in Blutflecken zu treten, ging er zu Theres’ Zimmer und sah sie dort auf dem Bett sitzen und an die Wand starren. Sie hatte sich einen sauberen, schwarzen Nicki-Overall angezogen, aber in ihrem blonden Haar klebten Placken aus geronnenem Blut, und ihre Hände, Gesicht und Füße waren von fast schwarzen, koagulierten Klumpen übersät. Zum ersten Mal, seit er in diese Situation geraten war, spürte Jerry, wie sich ein Gefühl des Ekels in seinem Bauch rührte. Die Reste seiner Eltern auf Theres’ Haut nahmen ihn mehr mit als der Anblick ihrer Körper.
»Komm«, sagte er. »Wir gehen.«
»Wohin?«
»Raus. Du musst dich verstecken.«
Theres schüttelte den Kopf. »Nicht raus.«
Jerry schloss die Augen und seufzte. In dem Chaos, das Theres geschaffen hatte, hatte er glatt vergessen, dass sie mehr als die offensichtlichen Probleme mit ihrem Weltbild hatte. Er war gezwungen, sich von ihren Voraussetzungen aus verständlich zu machen.
»Die Großen kommen«, sagte er. »Sie kommen hierher. Bald. Du musst weg.«
Das Mädchen zog die Schultern hoch, als würde sie vor einem Schlag in Deckung gehen.
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