Wolfskrieger: Roman (German Edition)
erreichen. Es gibt noch einen anderen Geist, einen Wolfsgott. Wir können ihn gegen sie kämpfen lassen, wenn wir ihn hierherlocken. Er wird kommen, weil er dich sucht.«
Abermals zitterte er heftig.
»Und was geschieht, wenn der Geist eintrifft?«
»Durch dich werden ihm Zähne wachsen.«
»Seit wann haben Geister Zähne?«
Der Mann trank noch etwas Wasser.
»Geister und Götter können viele Gestalten annehmen. Sie sind hier«, er tippte auf den Boden, »und auch sonst überall. Du bist lediglich hier.«
»Und du?«
»Überall. Manchmal.«
»Wie das?«
Der Mann tippte wieder auf den Boden.
»Dies ist fest, wenn dies hier fest ist.« Er deutete auf seinen Kopf. »Wenn dies hier«, der Kopf, »wie Wasser ist, dann kann dies hier«, der Boden, »wegfließen. Wenn das geschieht, kämpfe ich gegen die Göttin. Unsere Geister vermischen sich, und wir bekriegen einander.«
»Wie denn?«
»Durch Entschlossenheit und Beharrlichkeit. Ich stehle ihr die Magie. Wir siegen.«
»Es scheint dir nicht viel zu nützen«, entgegnete Adisla. »Du bist dem Sterben nahe.«
»Was ich von ihr gewinne …« Es fiel ihm zunehmend schwerer, die Worte auszusprechen. »Ich würde es nicht annehmen, wenn es nicht nötig wäre.«
»Verletzt sie dich in diesem Kampf?«
»Das eigentlich nicht. Sie scheint schwach oder abgelenkt zu sein. Ich weiß es nicht. Um das zu tun, was wir tun müssen, um das Ding zu erschaffen, das sie tötet, müssen wir ihr die Kräfte rauben. Der Schaden entsteht nicht, wenn man die Kräfte nimmt, sondern wenn man sie besitzt. Es gibt Dinge von großer Macht – Runen, Symbole, die älter sind als die Götter. Ich reiße sie bei den Wurzeln heraus, nehme sie der Totengöttin weg und pflanze sie in meinen Geist. Anscheinend ist es auszehrend, sie zu erhalten.«
»Und diese Runen helfen dir, deinen Wolf zu rufen?«
»Ich glaube schon, aber ich bin nicht sicher. Manchmal spüre ich ihn, manchmal nicht. Gelegentlich ist er ein Mann, dann wieder ein Wolf. Ich sehe sein Gesicht und weiß, dass er kommt. Nur das ist gewiss.«
»Wie kannst du so sicher sein?«
»Aus vielen Gründen.«
»Pass nur auf, dass der Wolf seine Zähne nicht gegen dich benutzt«, warnte Adisla ihn.
Noaidi nickte. »Ich habe ihn in Träumen gerufen und aufgesucht. Wenn er eintrifft, werde ich ihn fesseln. Er wird seine Zähne so einsetzen, wie es vorgesehen ist, sobald sie ihm gewachsen sind.«
Adisla stellte Noaidi noch weitere Fragen und fand heraus, dass Noaidi nicht sein richtiger Name war, sondern eher ein Titel, den die Zauberer in dieser Region trugen. Sein wahrer Name lautete Lieaibolmmai, was Adisla kaum aussprechen konnte. Er war ein Magier geworden, weil er als Kind die Gabe der Prophetie gezeigt hatte.
»Mein ganzes leben lang habe ich diesen Tag kommen sehen«, erklärte er nun. »Ich wusste, dass Jabbmeaaakka mich angreifen würde.«
Das Feuer im Zelt brannte, und sie schwiegen eine Weile.
Adisla hielt Lieaibolmmai für einen sanften Mann, der sicherlich nichts Böses gegen sie ausheckte. Nach langer Zeit stellte sie die Frage, die ihr die größten Sorgen machte: »Bin ich ein Opfer?«
»Das weiß ich nicht.«
Sie sah ihm in die Augen und fand nichts, was sie beruhigte.
»Muss ich leiden?«
»Nein.« Er sah ihr dabei nicht in die Augen, sondern senkte den Blick. »Die Magie ist wie das Sprechen. Du weißt, was du sagen willst, findest jedoch erst beim Sprechen die richtigen Worte. Das Bewusstsein dessen, der kommen wird, muss offen sein, es muss durch einen Schock geöffnet werden. Dann kann der Geist vollends auf die Erde gelangen. Vielleicht kann er sich ohne dich öffnen, vielleicht auch nicht.«
»Welcher Geist?«
»Der Wolf, der uns beschützen wird.«
Danach wollte er nichts mehr sagen.
Nach einem Monat kamen unter schiefergrauem Himmel Männer mit Booten vom Festland herüber. Im fahlen Licht des Abends brachten sie Adisla zu Lieaibolmmais Höhle, die sich wie eine klaffende Wunde im Fels öffnete, dreimal so hoch wie ein Mann und mehr als dreimal so breit. Drinnen lag Geröll, weiter hinten war sie völlig dunkel. Die Zauberer stellten sich vor dem Eingang auf und spähten mit den Tiermasken in die Dunkelheit.
»Da hinunter«, sagte Lieaibolmmai zu Adisla. Er war nicht freundlich, sondern ernst. Da er seine Wolfsmaske trug, war sein Gesicht nicht zu erkennen, sie konnte jedoch sehen, dass er unter den roten Gewändern beängstigend dünn geworden war. Er sprach leise, als litte er an Fieber, und
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