Wolfskrieger: Roman (German Edition)
schwitzte trotz der Kälte am Hals.
»Warum?«
»Hier sind die Geister«, erklärte er. »Hier können sie durchkommen, hier gelangt der Wolf zur Erde.«
»Ich will nicht gehen.«
Lieaibolmmai schwankte leicht, als bereitete ihm ihre Weigerung Schmerzen.
»Bis er kommt, bist du hier sicher.«
»Ich will nicht gehen.«
Er nahm die Maske ab und sah sie mit seinen sanften Augen an. »Bitte«, sagte er. »Es ist leichter, wenn du es freiwillig tust.« Einer der anderen Noaidis kam zu ihm und stützte ihn. Lieaibolmmai zitterte und stand so steif wie ein Baum, der einem Sturm widerstehen will. Wer sich selbst solche Qualen auferlegte, war wohl kaum bereit, bei anderen irgendeinen Widerspruch zu dulden.
Adisla musste an das denken, was sie ihrer Mutter angetan hatte, an den Kummer, den sie seit dem Überfall jeden Tag empfunden hatte, und daran, dass sie wahrscheinlich nie mehr ein normales Leben würde führen können. Dann ging sie mit den Noaidis hinunter. Immerhin kam Lieaibolmmai mit.
Irgendwann wurde der Gang schmal und so niedrig, dass sie den Kopf einziehen musste. Sie blieben vor einem Schacht stehen. An der Wand lehnte eine flache Felsplatte, unter der mehrere Holzkeile klemmten. Adisla sah es und schauderte. Sie wollten sie einsperren.
Lieaibolmmai bemerkte ihren Blick. »Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme«, sagte er. »Wenn er ein Mensch ist, wie wir es erwarten, ist dies nicht notwendig.«
Adisla fragte sich, was er damit meinte, fand aber, dass sie es lieber doch nicht so genau wissen wollte, und schwieg.
Ein Noaidi zeigte ihr, wie sie sich ein Seil um die Hüften schlingen musste, um hinabzuklettern. In völliger Finsternis und eingehüllt vom Geruch feuchter Felsen stieg sie hinab. Etwa fünf Mannshöhen tiefer stand sie schließlich auf einem unebenen Boden. Schlaff wie ein Gehenkter wurde auch Lieaibolmmai hinabgelassen. Er löste das Seil und saß eine Weile keuchend auf dem Boden. Dann schob er sie langsam durch die Dunkelheit weiter.
Sie tastete sich mit einer Hand an der Decke und der anderen an der Wand weiter und forschte zugleich mit den Füßen nach weiteren Löchern im Boden. Es schien ihr so, als wären sie lange Zeit gelaufen, bis sie endlich spürte, dass der Weg wieder breiter wurde und Lieaibolmmai sie anwies, stehen zu bleiben. Er schlug einen Feuerstein an, entfachte den Zunder und damit eine kleine Tranlampe. Ein Wolfskopf schien mit gebleckten Zähnen und zornig funkelnden Augen aus der Dunkelheit auf sie herabzustoßen. Sie schrie auf, stellte aber sofort fest, dass es nur eine erschreckend wirklichkeitsgetreue Ritzzeichnung war. Im schwachen Licht konnte sie erkennen, dass die Höhlenwände mit Runen bedeckt waren. Hinter ihr sammelte sich ein kleines Rinnsal in einer Mulde. Der Zauberer drückte ihr den Feuerstein und den Zunder in die Hand, stellte neben ihr einen Packen auf den Boden und zog den schweren Rentiermantel aus.
»Damit du es bequem hast«, sagte er.
»Was geschieht hier?«, fragte Adisla.
»Die Magie ist wie das Sprechen«, erklärte Lieaibolmmai. »Wir wollen abwarten, was wir sagen müssen.«
»Worauf warte ich?«
»Das wirst du zu gegebener Zeit schon sehen.«
»Wie lange wird es dauern? Wie lange muss ich hierbleiben? «
»Nicht sehr lange, glaube ich. Es ist schwer zu sagen. Wir wirken die Magie, so gut wir können. Manchmal ist er schwer zu finden. Heute oder in vielen Tagen. Ich weiß es nicht.«
Von oben drang Lärm herunter: Trommeln und Gesang.
Lieaibolmmai lächelte Adisla traurig an. Schließlich drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit. Adisla hörte, wie die Noaidis ihn hochzogen und das zweite Seil einholten. Nun war sie allein in der feuchten dunklen Höhle.
40
Wolfsjagd
F eileg erwachte. In der Nähe hörte er Raben krächzen. Das Fieber war verschwunden, und seine Wunde heilte. Er richtete sich auf und sah sich um. Wo eine Familie, ein Feuer und freundliches Lächeln gewesen waren, entdeckte er nur noch Ruinen.
Natürlich hatte er früher auch selbst getötet und viele Tote gesehen, doch noch nie so etwas wie dieses Blutbad. Die Leichen waren verstümmelt, Männer von Frauen und Kinder von Tieren nicht mehr zu unterscheiden. Wie lange lag er schon dort? Er betrachtete die Leichen. Sie begannen bereits zu verwesen.
Feileg fand den Anblick nicht widerwärtig, und er musste nicht würgen, wie es jeder andere getan hätte, der nicht sein halbes Leben als Wolf verbracht hatte. Vielmehr zitterte er. Seit sie die
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