Wolfskrieger: Roman (German Edition)
sehen, keine Frage.«
»Er ist der Herr der Gehenkten, ein wahrhaft mächtiger Gott!«
»Sei nicht so dumm – Mutter Disas Tod kann das Mädchen nicht retten.«
Manche priesen Odin geradezu begeistert. Andere Zuschauer waren zurückhaltender und missbilligten, was sie sahen. Die armen Leute, die steinige Wiesen und bescheidene Hütten besaßen, waren der Meinung, das Schicksal liege in den Händen der Götter. Die reicheren Bauern oder jene, die an erfolgreichen Raubzügen teilgenommen hatten, neigten eher zu der Ansicht, sie seien ihres eigenen Glückes Schmied, und vertrauten den Göttern nicht ganz so blind.
Jodis schob die Kiste auf dem Tisch nach vorn, und Disa setzte sich darauf. Ihr Kopf überragte nun die stehenden Zuschauer, ihre Füße befanden sich über dem Feuer. Jodis nahm Vali am Arm und hieß ihm, sich auf der anderen Seite auf den Boden zu setzen, wo er zu Disa aufblicken konnte.
Vali betrachtete die Gesichter der Gaffer, auf denen die Schatten und das Licht der Flammen spielten. Es war, als säße er auf einer eigenartigen Lichtung im Wald, und die Menschen, die ihn umringten, wären die Bäume.
»Wer nicht hier sein muss, sollte nicht bleiben und sich alles ansehen, was nun folgt. Es wird eine lange Nacht«, verkündete Jodis, doch niemand rührte sich. Sie drängte sich durch die Menge, nahm hinten im Raum einen Topf von einem Brett, entfernte den Stein, der als Deckel gedient hatte, und schüttelte etwas in der Hand, das Vali für Kienspan hielt.
Jodis warf das Zeug ins Feuer, worauf die Flammen emporschossen und einen beißenden, unangenehmen Geruch verströmten. Die meisten, die dem Feuer nahe waren, darunter auch Vali, zogen sich die Rockschöße vor Mund und Nase. Disa aber atmete tief ein und sang mit seltsam verzerrter, schriller Stimme:
Ich spreche die Rune des magischen Gottes,
Ich heule die Rune des gehenkten Gottes,
Odin, der sein Auge für das Wissen hergab.
Odin, ich warte am Brunnen auf deinen Ruf.
Disa nahm ein Stück Holz und brachte mit drei Schnitten eine Art Markierung darauf an, die Vali jedoch nicht erkennen konnte. Sie legte das Holz in ihren Schoß und drückte sich die Messerschneide in die andere Hand. Dann holte sie tief Luft, sammelte sich und fügte ihrer Hand die gleichen drei Schnitte zu, dieses Mal jedoch viel schneller. Fasziniert erkannte Vali die Ansuz-Rune. Er konnte selbst Runen schnitzen und wusste, dass sie angeblich magische Eigenschaften besaßen. Einmal hatte er Disa nach den Bedeutungen gefragt, doch sie hatte nur erwidert, dass Könige und Krieger ihre magischen Runen auf die Körper ihrer Feinde ritzten und keinen Grund sahen, mehr darüber zu wissen.
Das Blut tropfte von Disas Hand auf das Stück Holz. Sie verschmierte es auf dem Zeichen, das sie dort geschnitzt hatte, und warf es ins Feuer.
»Was bin ich? Ich bin eine Frau. Wo bin ich? Ich bin am Herd. Was bin ich? Ich bin eine Frau. Wo bin ich? Ich bin am Herd. Was bin ich? Ich bin eine Frau. Wo bin ich? Ich bin am Herd. Was bin ich? Ich bin eine Frau. Wo bin ich? Ich bin am Herd. Was bin ich? Ich bin eine Frau. Wo bin ich? Ich bin am Herd. Was bin ich? Ich bin eine Frau. Wo bin ich? Ich bin am Herd.«
Jodis verband Disas Hand, die es nicht einmal zu bemerken schien. Sie sang weiter und starrte ins Leere. Der eintönige Singsang trübte Valis Zeitgefühl. Jodis legte frisches Holz ins Feuer und warf noch einmal die Kräuter hinein, nach einer Weile kam die alte Mutter Sefa und tat das Gleiche.
»Was bin ich? Ich bin eine Frau. Wo bin ich? Ich bin am Herd. Was bin ich? Ich bin eine Frau. Wo bin ich? Ich bin am Herd.« Wieder und wieder sang sie die Worte und wiegte sich leicht auf der Kiste hin und her. Durch das Feuer und den Rauch schaute Vali unverwandt zu ihr auf. Manchmal irrten seine Gedanken ab, und er dachte, sie hätte aufgehört, doch wenn er wieder zu sich kam, sang sie wie zuvor. Wie lange saß er schon dort? Er wusste es nicht. Die Beine schliefen ihm ein, der Kopf wurde ihm schwer.
Der Rauch erfüllte Valis Sinne. Die Müdigkeit senkte sich über ihn, doch er durfte nicht schlafen. Jedes Mal, wenn er eindämmerte, schüttelten Jodis oder Sefa ihn, und sie hielten auch Disa wach. Inzwischen war ihm klar, warum die Mutter da oben saß. Es war ein unbequemer, unsicherer Sitzplatz. Dort konnte man nicht einschlafen. Irgendwann bemerkte Vali, dass es heller und auch kälter wurde. Einige Zuschauer waren gegangen. Viele sogar. Als er zur Tür blickte, wurde ihm klar, dass er
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