Wolfskrieger: Roman (German Edition)
Hexenkönigin berührte die kalten, lächelnden Lippen des Mädchens und das Seil. Ihr war klar, was die Knoten bedeuteten – drei ineinander verflochtene Dreiecke symbolisierten das Halsband des Totengottes. Es war das Zeichen Odins, des Berserkers, des Gehenkten, des Weisen und des Irren. Das Zeichen des Gottes, dem sie ihr Leben gewidmet hatte.
Die Hexenkönigin betastete die weiße Kehle des Mädchens und nahm mit ihren durch die Magie verstärkten Sinnen die Umstände des Todes in sich auf. Die Quetschungen schmeckten wie ein köstlicher Fleck, dachte sie, wie Brombeeren und dunkler Wein. Sie nahm das Haar des Mädchens zwischen die Finger und atmete ein. Gebackenes Brot, Asche, ein Lager aus Stroh und getrocknete Blumen, so roch ihr Tod. Das Mädchen war heimgekehrt. Gullveig war sicher, dass es sich um einen Selbstmord handelte.
Das tote Kind war keineswegs unglücklich gewesen. Das Mädchen hatte Angst gehabt, als es die Höhlen betreten hatte, doch die Gegenwart der Königin – ein zwölfjähriges Mädchen wie sie selbst – hatte sie beruhigt, und die Hexen hatten ihren Geist berührt, um sie zu besänftigen. Die Schmerzen und Leiden der Rituale hatten ihr zugesetzt, doch sie hatte durchgehalten, weil sie das Ziel gesehen hatte, und schließlich hatte sich ihr Geist erweitert, während ihre Vernunft dahingeschwunden war.
Sie hätte die Erbin der Wasserrune werden und die Resonanz des alten Symbols in sich tragen sollen, um es zu erhalten und von ihm erhalten zu werden. Zwei Mädchen waren ausgebildet worden. Wenn die alte Hexe, die sie angeleitet hatte, starb, sollte entschieden werden, wer die Rune bekommen und wer niedere Dienste verrichten sollte – den anderen helfen, Dinge holen und tragen. Jetzt war nur noch ein Mädchen da, das die Magie übernehmen konnte. Wenn auch ihr etwas zustieß, konnte sich die Rune nicht mehr in der Welt manifestieren, und die Macht der Schwestern würde schrumpfen.
In den magischen Spuren, die den Tod des Mädchens beschrieben, konnte Gullveig noch etwas anderes entdecken. Es war eine Art Schwere – die Schwere, die ein Ertrinkender empfindet, wenn sich die Kleidung mit Wasser vollsaugt, oder der Zug einer abwärts gerichteten Strömung, die einem Schwimmer die Kraft aus den Gliedmaßen zieht. Die Hexe spürte noch die Überreste der Magie, die von der Rune zu dem Mädchen geströmt war. Das hätte nicht geschehen dürfen. Die Hexen hatten immer wieder Verluste erlitten, die sich jedoch auf die körperliche Ebene beschränkt hatten – Schwestern waren erfroren, verbrannt oder im Rauch erstickt, wenn ein Ritual misslungen war. Die Runen unterlagen jedoch schon seit Generationen ihrer Kontrolle. Dies schien sich nun zu ändern.
Die Hexe beugte sich vor und berührte die Wange des Mädchens mit der Zungenspitze. Es schmeckte nach der Tiefe des Meeres, nach Finsternis und leeren Abgründen. Gullveig spürte den Sog der Gezeiten, das Tasten blinder Meeresungeheuer, das Gewicht des Wassers über sich, und alles schien zu sagen: »Komm tiefer herab, immer tiefer, bis du das Licht nicht mehr siehst. Gib dich der schweren Dunkelheit hin.« Sie schauderte. Ihr war klar, dass es noch weitere Todesfälle geben würde, genau wie weniger empfängliche Menschen wissen, dass auf eine Welle die nächste folgt.
Die Jahre danach zeigten, wie richtig ihre Vermutung war. Manchmal gab es von einem Sommer bis zum nächsten überhaupt keinen Todesfall, dann wieder zwei auf einmal.
Die Hexenkönigin erfuhr auf unterschiedliche Weise vom Tod der Mädchen. Einmal zuckte sie zusammen wie jemand, der im Halbschlaf erschrickt. Ein anderes Mal nahm sie aus einem Traum ein Unwohlsein mit, das auch im Wachen nicht verfliegen wollte. Wieder ein anderes Mal hatte sie den Geschmack von Pech im Gaumen und litt an einer Übelkeit, die erst verging, als sie die Tote erblickte.
Gullveig hielt die bleichen Körper in den Armen, berührte Quetschungen am Hals, legte die Finger auf geschwollene Lippen, streichelte gebrochene Gliedmaßen und hatte einen unerträglichen Druck im Kopf.
Loki hatte ihr die Wahrheit gesagt. Odin arbeitete gegen sie und tötete ihre Schwestern. Eines war gewiss – diese heimtückische Ernte war nur ein Vorspiel. Odin würde sich nicht damit zufriedengeben, ein oder zwei Menschen zu töten und im Schatten verborgen ihre Kräfte zu stehlen. Er würde kommen, offen in Erscheinung treten und seine ganze Macht in die Waagschale werfen.
Beinahe sechzehn Jahre hatte sie gebraucht,
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