Wolfskrieger: Roman (German Edition)
überhaupt nicht bemerkt hatte, wie die Nacht vergangen war. Draußen brach die Morgendämmerung an.
Die Bauern kamen und gingen. Sie schwatzten und überlegten, wie Disa ihre Kunst vollbrachte, sie fragten sich, welchen Zauber sie Vali auferlegte. Einige behaupteten, sie wollte ihn für Waffen unverletzlich machen, andere meinten, sie verwandelte ihn in einen Vogel, damit er das Land nach den Wolfsmännern absuchen konnte, wieder andere dachten, sie freute sich darüber, dass ihre Tochter zu Odin ging, und wollte Vali von seiner Suche abhalten. Zwei spielten Würfel, andere nahmen sich Valis Spielbrett. Einerseits fanden sie die Zeremonie langweilig, andererseits fürchteten sie, etwas zu verpassen, wenn sie nach Hause gingen. Zwei junge Männer machten sich sogar über Disa lustig und wiederholten mit albern verstellter Stimme ihre Worte. Jodis scheuchte sie mit erhobenem Besenstiel hinaus. Einige Nachzügler, fromme Frauen von den umliegenden Gehöften, stimmten in den Gesang ein, weil sie hofften, auch für sich den Segen des Gottes zu gewinnen, den Disa anrief.
»Was bin ich? Ich bin eine Frau. Wo bin ich? Ich bin am Herd. Was bin ich? Ich bin eine Frau. Wo bin ich? Ich bin am Herd.«
Der Gesang hörte und hörte nicht auf. Draußen wurde es hell. Es wurde warm, dann wieder kalt. Weitere Leute kamen, andere gingen. Jodis schüttelte Vali und Disa, damit sie wach blieben, half Disa, auf dem Tisch nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und warf Kräuter ins Feuer.
»Was bin ich? Ich weiß es nicht. Wo bin ich? Ich bin im Dunkeln. Was bin ich? Ich bin ein Rabe. Wo bin ich? Ich bin auf dem Feld der Gefallenen. Was bin ich? Ich bin die Raben. Wo bin ich? Ich bin da, wo ich sehen kann.«
Hat sie das wirklich gesagt?, fragte Vali sich. Der Boden schien zu schwanken, als wären sie auf einem Schiff. Die Luft war zum Schneiden dick. Abermals wurde es draußen dunkel. Vali und Disa hatten seit drei Tagen nicht mehr geschlafen. Disa war heiser, man konnte sie kaum noch verstehen.
Irgendetwas schnitt durch den Dunst seiner Gedanken. Disa hustete und spuckte, dann stieß sie einen Schrei aus und zitterte heftig. Jodis und Sefa eilten ihr sofort zu Hilfe und stützten sie, damit sie auf der Kiste blieb. Disa verkrampfte sich, und es schien fast, als wollte sie aufspringen.
»Die Nadeln stechen mir so tief in die Haut.«
Disas Stimme hatte sich völlig verändert, so hatte Vali sie noch nie reden hören. Langsam und bedächtig, viel höher als sonst und mit einem eigenartigen Akzent.
Vali blickte zu ihr hoch. Vom Sitzen waren seine Beine ganz steif, und er hatte das Gefühl, einen großen Fels im Kopf zu haben.
»Eine Rune habe ich vom gequälten Gott bekommen.«
Es war eine bebende Stimme, fast kindlich, dachte Vali. Manchmal schien sie zu schmatzen wie das Meer auf dem Schiefer am Strand, dann wieder war sie brüchig und erstickt wie ein Hund mit einem Hühnerknochen im Hals.
Disa rutschte zurück und plumpste schwer auf den Tisch. Der Kasten flog seitlich herunter. Sie zuckte, dann ebbte das Schaudern ab, und sie beruhigte sich. Jodis und Sefa ließen sie los, damit sie auf dem Tisch aufstehen und sich umsehen konnte. Auf einmal wurde es sehr kalt im Raum, und Vali bekam eine Gänsehaut. Der Atem stand als Wolke vor seinem Mund. Mutter Disas Haltung hatte sich verändert. Aufrecht und stolz stand sie dort und blickte in die Runde wie eine Königin. Unwillkürlich wichen die Zuschauer zurück, zwei schrien erschrocken auf. Vor ihren Füßen hatte sich Raureif niedergeschlagen. Vali war ganz sicher, dass er die Wirkung irgendeiner Magie beobachten konnte. Damit hatte er zwar Recht, doch es hatte nichts mehr mit Disa zu tun.
12
Feinde
D en ersten Todesfall hatte die Hexenkönigin gespürt wie jemand, der an einem heißen Sommertag plötzlich den Schatten einer Wolke vorbeiziehen sieht. Danach war alles sehr schnell gegangen – sie hatte Kerzen entzündet, um die Finsternis der Gruft zu vertreiben, die Schwestern aus ihren rituellen Leiden gerissen und die Knaben ausgesandt, um die Leiche zu suchen.
Authun war noch nicht einmal von der Wand nach Hause zurückgekehrt, als Gullveig die Tote fand.
Das Mädchen lag in den unteren Gängen, nicht weit von den feuchten Felsen und in der Nähe des tiefen Teichs, in dem das Ritual der Wasserrune abgehalten wurde. Das Opfer war an einem groben Seil erhängt, das jemand über einen Felsvorsprung geworfen hatte. Am Hals war es mit einem dreifachen Knoten befestigt. Die
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