Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen
der ganzen Farbenpracht des Indian Summer. Die goldenen Blätter der Espen strahlten um die Wette mit dem Blutrot des Zuckerahorns. Endlich erreichte ich mein Quartier, die Timber Wolf Lodge. Wenn »Nomen est Omen« gilt, dann war ich hier genau richtig.
»Willkommen im Wolfsland«, begrüßte mich Dan Groebner, der Biologe und Studienleiter des International Wolf Center, der mit seinem dunklen, lockigen Haar und dem obligatorischen Vollbart ganz dem Klischee des Wolfsforschers entsprach. Die Holzfällerjacke, Jeans und gefütterten Stiefel rundeten das Bild ab. Er sah aus wie eine Figur aus einem Jack-London-Roman.
|47| Dan stellte mich den anderen vier Teilnehmern des Forschungsseminars vor: Karla, eine sechsundzwanzigjährige Biologiestudentin aus der Schweiz, hoffte, durch die hier erworbenen Kenntnisse einen besseren Ausgangspunkt für ihre berufliche Wunschlaufbahn (»etwas mit Wölfen«) zu erhalten. Linda war etwa vierzig und Lehrerin in Denver. Sie arbeitete ehrenamtlich im Zoo und wollte ihren Schülern die Wölfe näherbringen. John, ein pensionierter Eisenbahner aus Boston mit einer lebenslangen Leidenschaft für Wölfe, hatte nun endlich die Zeit, mehr über seine Lieblinge zu lernen. Und Peter, ein dreißigjähriger Maschinenschlosser aus Deutschland, wollte Fotograf werden und wünschte sich sehnlichst, in Minnesota ein paar Wölfe vor die Linse zu bekommen.
»Ihr seid sicher hungrig«. Dan traf den Punkt. »Wir haben etwas zu essen für euch vorbereitet.« Im Speiseraum der aus Rundhölzern gezimmerten Lodge flackerte bereits ein Feuer im Kamin. Bei einer dampfenden Suppe und Bergen von Spaghetti und Salat besprachen wir das Programm für die nächsten Tage.
Schließlich forderte der Jetlag seinen Tribut, und ich zog mich in die gemütliche Blockhütte zurück, die für die nächste Zeit mein Zuhause sein sollte. Im Wohnzimmer brannte im Holzofen ein Feuer gegen die langsam aufziehende Kälte. Eine offene Küche und ein Duschbad fanden gerade noch Platz in der kleinen Cabin. Das große, aus ganzen Baumstämmen gezimmerte Bett nahm fast das gesamte Schlafzimmer ein. Es wurde von einem dicken, handgearbeiteten Quilt bedeckt. Jetzt erst merkte ich, dass ich kaum noch die Augen aufhalten konnte, und sank dankbar in die weichen Kissen. Ich versuchte noch wach zu bleiben, in der Hoffnung, das Heulen der Wölfe zu hören, aber vergeblich. Sofort fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Der nächste Morgen war kalt und stürmisch. Von der Terrasse meiner Cabin aus sah ich die Schaumkronen auf dem Bear Island Lake tanzen – typisch für diese Jahreszeit, in der schon im Oktober der erste Schnee fallen kann. Ich befand |48| mich in einem der kältesten Staaten der USA. Doch viel Zeit zum Frieren blieb nicht. Auf uns wartete ein volles Programm. Jeder der folgenden Tage war angefüllt mit Vorträgen von Biologen, Verhaltensforschern und Fallenstellern. Wir übten, uns mittels Kompass und topografischer Karten im Gelände zu orientieren und lernten die Telemetrie-Ausrüstung kennen. Mit der Telemetrie haben die Forscher eine sehr wirkungsvolle Methode gefunden, um einzelne Wölfe zu orten. Sie informiert über die Bewegungen eines speziellen Wolfes über einen bestimmten Zeitraum hinweg und ermöglicht es so, dem Wolf das ganze Jahr über zu folgen. Dazu trägt das Tier ein Radiohalsband, das mit einem Sender ausgerüstet ist, der ein Signal abgibt. Der Biologe hat eine Antenne, mit der er in die Richtung des Tieres zeigt. Wenn das Signal im Empfänger am lautesten piept, notiert der Biologe die Koordinaten auf einer Karte. Danach wiederholt er den Vorgang an einem anderen Ort. Die Schnittpunkte der beiden Koordinationslinien zeigen, wo sich der Wolf befindet. Jeder Wolf hat eine eigene Sendefrequenz, sodass ein Forscher mehrere Tiere lokalisieren kann.
Uns schwirrte der Kopf bei so viel Theorie. Dann endlich die Erlösung.
»Ihr werdet in den nächsten Tagen Nummer 369 beobachten«, verriet Dan.
Wir sollten eine
Nummer
beobachten?
»369F ist eine schwarze Wölfin. F steht für ›female‹, also weiblich. M ist ›male‹, ein Rüde«, lautete die Erklärung.
»Wäre es nicht einfacher, den Wölfen Namen zu geben?«, fragte Karla.
»Nun, im Gegensatz zu unseren kanadischen Kollegen geben wir den Wölfen keine Namen«, tönte es in einem tiefen Bariton von der Tür. Ein großer, stattlicher Mann war eingetreten. Der gestutzte, graumelierte Vollbart glich den zurückgehenden Haaransatz aus. Mit dem
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