Wolfslied Roman
eigentlich noch weniger Luft hätte bekommen müssen. Doch dem war nicht so. Ich fühlte mich vielmehr seltsam beruhigt, als ich sein Gewicht auf mir spürte.
»Wissen Sie, wo Sie sind?«
Ich nickte. Ich war wieder so weit bei mir, dass mir mein Verhalten und die ganze Situation wahnsinnig peinlich waren. Unauffällig zog ich das Kinn nach unten, um meine Nase in die Nähe seiner Achsel zu bringen. Ich schnupperte. Unter der Wolle konnte ich den Anflug seines Geruchs wahrnehmen, der zwar nur schwach, aber nicht zu verkennen war. Neben dem normalen Odeur eines Mannes war da noch ein anderer, ungewöhnlicher Geruch auszumachen.
Es musste seine Krankheit sein, die ich jedoch nicht erkannte. Auf keinen Fall handelte es sich um das warme Aroma eines Lykanthropen, aber auch um keine normale Erkrankung. Ich konnte weder den faulig süßen Gestank von Krebs oder Diabetes noch den sauer angebrannten Geruch mancher Nervenleiden riechen.
Ich richtete meinen Blick auf die silbergrauen Haare, die sich zwischen Malachys schwarzen Locken zeigten. Ohne zu überlegen, schob ich meine Nase noch näher, um den unbekannten Geruch besser herausriechen zu können.
»Hören Sie damit auf!«
Eine Hand, die sich in meine Haare krallte, riss meinen Kopf zurück. Ich starrte Malachy an. Zum ersten Mal während unserer Bekanntschaft fiel mir auf, dass seine Augen die Farbe eines hellgrünen Frühlingsmorgens hatten, wenn alles noch in kraftvollem Saft steht.
Ich spürte, dass meine Verwandlung kurz bevorstand. Malachy hielt mich allein durch seine Willenskraft noch zurück. Selbst bei gewöhnlichen Wölfen ist es nicht immer das körperlich stärkste Männchen, das ein Rudel anführt.
»Tut mir leid«, sagte Malachy einen Augenblick später. Seine Hand, die mich an den Haaren festhielt, entspannte sich. »Habe ich Ihnen wehgetan?«
Ich antwortete nicht, sondern blickte ihn nur weiterhin passiv abwartend an. Einen Augenblick lang glaubte ich ihn als uralten Baum vor mir zu sehen, dessen äußere Erscheinung zwar krank und mitgenommen wirken mochte, in dessen Innerem jedoch noch immer kraftvoll die Lebenssäfte flossen.
Ein Zittern lief durch seinen Körper, das nichts mit einer Erschöpfung der Muskeln zu tun hatte. Etwas, das dem, was
mich von einer Frau zu einem Wolf werden ließ, ähnlich sein musste, erschütterte auch sein Innerstes. Seine Fingerknöchel waren weiß vor Anspannung, obwohl ich mich schon lange nicht mehr wehrte. Es musste also etwas anderes sein, wogegen er mit einer solchen Gewaltanstrengung ankämpfte. Seine Arme bebten, und die langen Muskeln seiner Oberschenkel zogen sich an den Stellen zusammen, wo sie meine Beine berührten.
Ich spürte, wie mein eigener Körper auf den seinen reagierte und nachgab. Seine Augen leuchteten unheimlich - darin lag ein Licht, das mich wie der Mond zu rufen schien. Meine Knochen fingen an, sich auf inzwischen vertraute Weise zu verändern.
Auch in Malachy fand eine Verwandlung statt. Doch es war kein Wolf, der sich in ihm zeigte. Es war etwas anderes, etwas Monströseres und Seltsameres, das an ihm riss. Sein Gesicht wurde aschfahl. »Nein«, flüsterte er heiser, während er die Zähne krampfhaft aufeinanderbiss. »Nein!«
Weiter unten schien ihn die Verwandlung weniger zu stören.
Ich drückte den Rücken durch und warf den Kopf nach hinten, während sich meine Muskeln immer wieder verkrampften. Über mir sah ich den blauen Himmel, die Sichel des Mondes, die Baumwipfel … und auf einmal Red, der sich mit einem finsteren Gesichtsausdruck über uns beugte.
4
Plötzlich fand ich mich in der bizarren Redneck-Version einer französischen Schlafzimmerkomödie wieder. Wir saßen zu dritt um unseren Küchentisch und taten so, als ob zwei von uns nicht gerade in einer höchst zweifelhaften Situation erwischt worden wären. Der Rotschwanzfalke, der eigentlich ein Weibchen war und den wir deshalb Ladyhawke getauft hatten, hockte hoch oben auf einem Küchenregal, wo er sich ein Nest aus Papiertaschentüchern, Zweigen und Haaren gebaut hatte, die fast alle von mir stammten. Regungslos beobachtete er mich aus einem seiner goldenen Augen. Irgendwie erinnerte er mich an eine misstrauische Gastgeberin, die einen ihrer Gäste im Verdacht hatte, sich jeden Augenblick mit dem Familiensilber auf und davon zu machen.
Unser anderes Pflegekind - Waschbär Rocky - hatte sich wie eine Katze in einer Hängematte zusammengerollt, die an der Decke angebracht war. Die namenlose Fledermaus hingegen
Weitere Kostenlose Bücher