Wolfslied Roman
hatte erklärt, dass ich die Höhlen unter den Kornfeldern am östlichen Rand der Stadt für einen wahrscheinlicheren Aufenthaltsort hielte. Red zufolge existierte eine Verknüpfung zwischen dem Berg, den Höhlen und dem Wald hinter unserer Hütte. Wenn ich in der Haut eines großen Geisterbären gesteckt und den Angriff auf eine Stadt angeführt hätte, so wäre ich sicher klug genug gewesen, meine Kommandozentrale in den Höhlen aufzuschlagen.
Wir stimmten also ab: Magda, Vasile und der kriecherische Hunter waren für den Berg, während Emmet, Kayla und ich für die Höhlen plädierten. Zu Magdas Verärgerung gab Grigore letztlich den Ausschlag, indem er sich auf unsere Seite stellte.
»Wie weit ist es noch?«, wollte er jetzt wissen. Er sah eher wie ein Student, nicht wie ein Krieger aus, obwohl auch er ein Gewehr bei sich trug.
»Ich glaube, nicht mehr weit. Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, und bisher war ich auch erst einmal hier. Im vergangenen Sommer.«
In Wahrheit wusste ich keineswegs, wo die Höhlen genau lagen. Wir verließen uns alle auf Emmets Ortskenntnis.
»Mir gefällt Ihre Halskette.« Grigore schenkte mir ein verschmitztes Lächeln, das ich erwiderte. »Das ist Mondstein, nicht wahr? Ein mächtiger Stein. Aber tut Ihnen das Silber denn nicht weh?«
»Nicht mehr so stark, wie es das schon einmal getan hat.«
Ich berührte den Anhänger an meinem Hals. Zu meiner Überraschung hatte das Silber tatsächlich aufgehört, meine Haut zu reizen. Ich war mir nicht sicher, warum das so war. Entweder hatte ich mich an das Metall gewöhnt oder es hatte meine Nervenenden inzwischen derart verätzt, dass ich nichts mehr spüren konnte.
»Und wie geht es Ihrem Freund?«, fragte Grigore. »Der Mann, der im Café zusammengebrochen ist?«
»Das war nicht mein Freund, sondern mein Chef«, erklärte ich schon, als ich neben uns auf einmal schwere Schritte hörte.
»Grigore«, mahnte Vasile, der ältere Bruder, mit tadelnder Stimme.
Bei ihm stellte man sich keine Sekunde lang die Frage, ob er mit Magda verwandt war. Die beiden sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Er schien geradezu die männliche Ausgabe seiner Schwester zu sein - einschließlich der weißen Strähne in den sonst schwarzen Haaren. Eine lange dünne Narbe verlief quer über seine Wange und hob die rechte Mundecke an, so dass er ständig spöttisch zu lächeln schien.
»Hör mit dem Flirten auf. Wir sind Verbündete, solange wir gegen einen gemeinsamen Feind kämpfen. Aber danach werden wir uns wieder unseren Territoriumsfragen zuwenden.« Er bedachte mich mit einem Blick, der mir signalisieren sollte, dass diese Frage ohnehin schon zu seinen Gunsten entschieden war.
Der jüngere Bruder protestierte. Er antwortete auf Rumänisch, aber ich vermutete, dass er Vasile erklärte, er lasse sich nicht herumkommandieren. Vasile antwortete, woraufhin sich Grigore mit einem knappen Nicken an den Sheriff wandte, der neben uns herlief.
»Helfen Sie mir, die Gruppe anzuführen?«
Emmet warf mir einen fragenden Blick zu. Wahrscheinlich hielt er sich - zu Recht - für meinen einzigen zuverlässigen Verbündeten. »Haben Sie etwas dagegen, Abra?«, wollte er wissen.
»Nein, schon in Ordnung.«
»Seid so leise wie möglich«, riet Magda, als die beiden Männer zur Spitze der Gruppe eilten und von dort aus auf die Bäume zusteuerten, die Straße und Kornfelder voneinander trennten. Einige Stunden zuvor hatte es sich noch um schneebedeckte Stoppelfelder gehandelt. Jetzt wuchs das Getreide bereits schulterhoch. »Und denkt alle dran: Sobald ich das Zeichen gebe, müsst ihr mucksmäuschenstill sein.«
Mir war nicht so recht klar, wie es Magda gelungen war, das Kommando zu übernehmen, obwohl doch eigentlich der Sheriff die logische Wahl gewesen wäre. Aber sie hatte es geschafft und war offenbar auch nicht bereit, diese Position so schnell wieder abzugeben. Im Grunde hätte es mich nicht wundern sollen. Magda war vermutlich bereits als Kämpferin zur Welt gekommen und hatte ihre Kindheit mit Kriegsspielen verbracht, während sich ihre Altersgenossen noch mit Murmeln abgaben.
»Wie lautet eigentlich der genaue Plan?«, wollte Kayla wissen und beschleunigte ihren Schritt, um mich einzuholen. Ihr Gesicht schimmerte feucht, und sie vermochte kaum mit uns mitzuhalten. Es war zwar kleinlich von mir, aber insgeheim war ich doch froh, dass es jemanden in der Gruppe gab, der noch untrainierter zu sein schien als ich. Ich zeigte mich nur als Wolf sportlich.
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