Wolfslied Roman
angeschlagenen Tisch, einige Aschenbecher und eine große Anzahl leerer Weinflaschen heruntergebracht.
Ich erkannte einige der Bedienungen aus dem Moondoggie’s . Auch Kayla saß unter ihnen. Sie hatte sich die rechte Wange verletzt, ihre weiße Bluse war voller Schmutzflecken. Ein paar der anderen sahen ebenso mitgenommen aus. Vermutlich hatten sie einen harten Tag hinter sich.
»Ich habe gesagt, dass ihr nicht bleiben könnt«, erwiderte die Besitzerin der unfreundlichen Stimme, in der ich jetzt Marlene erkannte. »Und die Hunde auch nicht.«
Baby, Hudson, Bonbon und Schäfer hatten sich in einem Haufen aus schwarzem, weißem und geschecktem Fell um mich platziert und hechelten aufgeregt. Die anderen Kellerbewohner musterten sie mit Argwohn und Besorgnis.
»Marlene«, sagte ich. »Sie reden hier über Baby.« Ich zeigte auf den früheren Pekinesen, den kleineren der beiden schwarzen Hunde. »Erkennen Sie Ihren Liebling denn gar nicht wieder?«
Sie kniff die Augen zusammen, als würde sie versuchen, den Umriss ihres Schoßhündchens in Babys größerer Gestalt auszumachen. »Das ist nicht mehr mein Baby«, erklärte sie. »Daraus ist ein gefährliches, krankes Tier geworden. Sonst nichts. Und Sie sind ein Werwolf. Vielleicht haben Sie die Krankheit ja auch aufgeschnappt.«
Die anderen Kellerinsassen begannen aufgeregt miteinander zu tuscheln, als sie das hörten. In Northside sprach man nie offen über die übernatürlichen Fähigkeiten der einzelnen Bewohner. Es galt als genauso beschämend, wie wenn man einen Filmstar angesprochen und ihm erklärt hätte, dass man wisse, wer er sei. Es gehörte sich vielmehr, so zu tun, als wäre Übernatürliches das Normalste der Welt. Das war das ungeschriebene Gesetz von Northside.
»Bitte«, sagte ich. »Wir haben nicht einmal Vollmond.«
»Das hat Sie aber auch nicht davon abgehalten, mir vor einigen Wochen beinahe den Kopf abzubeißen!«
»Marlene«, mischte sich Emmet mit seinem lässigen John-Wayne-Akzent ein. »Ich befürchte, Sie lassen sich von Ihren Gefühlen leiten.«
Marlene runzelte ihre lederartige Stirn. »Sheriff, Sie können natürlich bleiben. Aber für alle haben wir hier unten nicht genügend Luft und Essen.«
Ich war mir nicht ganz sicher, glaubte aber, aus Emmets Stimme eine Art Belustigung herauszuhören. »Wie wäre es, wenn ich nur einmal alle zwei Minuten atme?«, schlug er vor. »Dann können wir uns Abra auch noch leisten.«
»Sehr witzig. Aber wer von uns weiß, wie lange dieser Sturm andauert? Und schauen Sie sich die Stadt an. Wenn wir hier wieder herauskommen, wird uns da draußen wahrscheinlich schon ein Dschungel umgeben.« Marlene schüttelte ihre Shopping-Kanal-Armbanduhr aus türkisfarbenen Steinen zu ihrem Handgelenk herunter und setzte eine Miene wie eine Bankangestellte auf, die einen Kredit verweigert. »Wir müssen unsere Vorräte genau einteilen.«
»Sie hat Recht«, stimmte eine der Kellnerinnen zu.
»Nein, hat sie nicht«, entgegnete Kayla, während der Sturm an den Kellertüren rüttelte. »In diesem Wetter kann Abra nicht hinaus.«
Wieder riss der Tornado an den Türen.
»Sie muss von hier verschwinden!«, kreischte Marlene und zeigte mit ihren langen aufgeklebten Fingernägeln auf mich. »Bevor sie sich auf uns stürzt!«
Winselnd rannte Baby zu mir und versteckte sich zwischen meinen Beinen. Ich merkte, dass ein paar der Kellerinsassen Marlene zustimmten, andere aber Kaylas Meinung teilten. Instinktiv trat ich einen Schritt an den Sheriff heran.
Wieder rüttelte es an den Türen, und diesmal war es so laut, dass jemand entsetzt aufschrie. »Oh, mein Gott! Wir
werden alle sterben!« Es war einer der Kellner, der von Kayla eine schallende Ohrfeige kassierte.
»Reiß dich zusammen«, fauchte sie ihn an, legte dann aber sogleich einen Arm um seine Schultern, als er zu schluchzen begann.
»Wartet einen Moment«, sagte ich. »Das ist nicht der Sturm. Da will jemand zu uns herein.« Ich konnte es jetzt deutlich hören: Jemand trommelte mit den Fäusten gegen die Tür.
»Lasst niemanden mehr herein«, protestierte Marlene. Kayla befahl ihr, den Mund zu halten und sich wieder hinzusetzen. Die Kellnerin gefiel mir immer besser.
»Also, hört mir zu«, sagte ich. »Ich werde jetzt diese Türen öffnen, weil wir niemanden da draußen einfach sterben lassen dürfen.«
»Hört nicht auf sie!«
»Es geht nicht nur ums Überleben«, fuhr ich ungerührt fort. »Es geht auch darum, unsere Menschlichkeit nicht zu
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