Wolfsmagie (German Edition)
dankbar auf. »Sie haben da eine sehr hübsche Sammlung zusammengetragen. Haben Sie die ganze Arbeit allein gemacht?«
»Ich habe alles geplant, ja. Aber ich hatte Hilfe von dieser Künstlerin, die nach Drumnadrochit kam, um den Loch Ness zu zeichnen.«
Die Umschreibung entlockte Kris ein leises Lächeln. Wie lange musste man hier leben, bevor man namentlich bekannt war? Dougal zufolge vielleicht ewig.
»Haben Sie Nessie schon mal gesehen?«, erkundigte sie sich.
Dougal nahm einen Schluck von seinem Whisky. »Jeder hat sie schon mal gesehen.«
»Das scheint die gängige Antwort zu sein, aber …« Sie wartete, bis Dougal aufsah. »Haben Sie ?«
Etwas flackerte in seinen betörenden Augen. Er zögerte, ehe er den Kopf schüttelte. »Man kann nicht sehen, was nicht da ist.«
Die Worte hätten von ihr selbst stammen können. Kris überkam wieder das Gefühl, einen Bruder im Geiste gefunden zu haben. Sie rückte ihren Hocker näher zu Dougal. »Für einen Skeptiker wahren Sie aber ziemlich gut die Fassade.«
»Mir bleibt ja keine Wahl. Glauben Sie etwa, jemand würde ein Museum besuchen, das sämtliche Gründe anführt, warum es keine Nessie gibt?«
Wohl kaum.
»Sind Sie mit der Geschichte des Loch Ness vertraut?«, fragte er.
Das war sie, aber sie wollte hören, was er wusste. »Weihen Sie mich ein.«
»Vor zwanzigtausend Jahren ist ein Gletscher durch diese Gegend gerutscht.«
Gerutscht war vielleicht etwas überzogen. Gletscher bewegten sich eher gletscherartig.
»Hat jede Menge Löcher in den Untergrund gehöhlt, und als circa zehntausend Jahre später das Eis schmolz, wurde die Landmasse angehoben und neue Gewässer bildeten sich. Der Loch Ness war davor ein Teil der Nordsee, aber danach nicht mehr.«
»Gibt es dafür Beweise?«
»Überreste von Seeigeln, Muschelschalen und dergleichen im tiefen Sediment des Lochs, und das, obwohl er ein Süßwassersee ist.«
»Fahren Sie fort.« Kris war fasziniert.
»Manche vermuten, dass es sich bei Nessie um ein Seeungeheuer handelt, das hier in die Falle geriet, als sich die neuen Gewässer formten, und sie eine Evolution durchlief, um sich dem Süßwasser anzupassen.«
»Wie könnte ein einzelnes Wesen so lange leben?«
»Das könnte es nicht«, räumte Dougal ein. »Es sei denn, es wären übernatürliche Kräfte im Spiel.«
Kris hob die Brauen. »Halten Sie das für denkbar?«
»Nein.« Dougal grinste. »Aber es ist eine sehr hübsche Geschichte.«
»Was ist mit dieser Theorie, der zufolge eine ganze Herde dieser Ungeheuer dort eingeschlossen wurde?«, hakte Kris nach. »Eine Brutpopulation.«
»Prinzipiell könnte das die lange Lebensdauer erklären. Jedoch würde eine eingeschlossene Brutpopulation am Ende derart inzüchtig sein, dass sie sich nicht weiter fortpflanzen könnte.«
»Womit wir wieder bei dem Rätsel um die lange Lebenserwartung wären«, stellte Kris fest. »Was wissen Sie sonst noch?«
»Manche glauben, dass dort unten, in den unbekannten und unerforschten Tiefen des Gewässers, ein Weg aus dem Loch hinausführt. Und dass es sich bei Nessie in Wahrheit um eine Gruppe prähistorischer Seelebewesen handelt, die sich sowohl an Salz- als auch an Süßwasser angepasst haben und trotz der extremen Kälte dort unten gedeihen.«
»Was das Argument, dass bei dem im Loch Ness herrschenden Nahrungsangebot keinesfalls mehrere Tiere dieser Größe überleben könnten, ein für alle Mal widerlegen würde.«
»Ganz genau!«, rief Dougal, offensichtlich hocherfreut, dass Kris all diese Halbwahrheiten über Nessie kannte. »Wenn es einen Weg nach draußen gibt, besteht kein Grund, im Loch Ness zu fressen.«
Jemand rempelte Kris an, und sie drehte sich um. Das Pub füllte sich zunehmend. Sämtliche Sitzplätze waren belegt. Obwohl Dougal gesagt hatte, dass es ein Treffpunkt der Einheimischen war, schienen sich auch mehrere Touristen in die Bar verirrt zu haben.
Was erklären könnte, warum Kris plötzlich das Gefühl überkam, beobachtet zu werden. Sie schaute sich verstohlen um, dabei fing sie den Blick eines älteren Mannes am Ende der Theke auf.
Er war groß und sehr hager, sein ehemals blondes Haar nun ein verwaschenes Weiß. Sein Gesicht war verwittert von einem Leben an der frischen Luft, und seine blauen Augen funkelten.
Er neigte entschuldigend das Kinn, weil er sie angestarrt hatte, dann wandte er sich wieder seinem Drink zu.
Vermutlich ist er einsam , dachte Kris. Er muss zwanzig bis dreißig Jahre älter sein als alle anderen hier
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